Naheliegend und doch entfernt

Die 29. Leipziger Jazztage finden wieder statt

Manchmal ist das Naheliegendste das Entfernteste. So ist Polen aus geographischer Sicht uns zwar nahe liegend, denn es ist unser Nachbarland, der polnische Jazz erscheint jedoch, was die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland anbetrifft, weit entfernt. Jazz wird hierzulande (und wahrscheinlich überall auf der Welt) nach wie vor als ein zutiefst amerikanisches Phänomen angesehen und dementsprechend rezipiert. Der Hauptgrund für diesen Umstand ist wohl in der, durch die Musikindustrie lancierten, Omnipräsenz des amerikanischen Jazz zu suchen. Dabei gibt es seit Jahrzehnten, neben der amerikanischen, auch eine europäische Jazzidentität. Der polnische Jazz war für die Ausbildung der letzteren von großer Bedeutung, insbesondere in den Zeiten des „Kalten Krieges“.

Dass er auch heute noch kreative Impulse zu geben vermag, konnte man bei den 29. Leipziger Jazztagen entdecken. Die Veranstalter des 4-tägigen Festivals hatten nämlich in diesem Jahr – zum ersten Mal in der langen Festivalgeschichte – einen Länderschwerpunkt gesetzt und Polen in den Fokus genommen. Dabei konnten sie auf polnische Musikerinnen und Musiker zurückgreifen, die schon in früheren Jahren in Leipzig aufgetreten waren – und somit die bereits geknüpften deutsch-polnischen Jazz-Beziehungen weiter pflegen. Ein eigens angesetztes Podiumsgespräch mit deutschen und polnischen Jazzpublizisten und Musikern lotete diese Kontakte theoretisch aus.

Insgesamt drei deutsch-polnische Formationen untermauerten dann auch das Gesagte musikpraktisch. Das speziell für die Leipziger Jazztage formierte Adam Pieronczyk – Johannes Enders Projekt, um die beiden namensgebenden Saxophonisten, wartete mit einer wirklich spannenden Mixtur auf. Die beiden Solisten – unterstützt von E-Gitarre, Kontrabass, zweimal Schlagzeug und einmal Live-Elektronik – produzierten eine pulsierende und themenorientierte Musik, die trotz der kurzen Vorbereitungszeit von nur zwei Tagen eine erstaunliche Dichte erkennen ließ. Hier wurde nicht über- oder aneinander vorbei, sondern miteinander gespielt, und das mit quasi internationalem Demokratieverständnis, denn neben polnischen und deutschen waren auch amerikanische Musiker gleichberechtigt beteiligt. Man kann also von einem gelungenen Festivalprojekt sprechen und hoffen, dass diese Musiker auch über das Festival hinaus zusammen musizieren werden. So etwa wie bei der Sängerin Karolina Trybala und dem Saxophonisten und Bassklarinettisten Lars Stoermer. Beide lernten sich vor einiger Zeit beim Jazz-Nachwuchsfestival in Leipzig kennen und traten dieses Jahr gemeinsam bei den Leipziger Jazztagen mit einem intimen Programm an, das amerikanische Standards ebenso beinhaltete wie polnische Folklore und Eigenkompositionen mit polnischen Texten. Auf Texte im herkömmlichen Sinne verzichtete dagegen das Andy Lumpp / Andy Przybielski Quintett, das zwar als Quintett angekündigt, aber nur als Quartett erschienen war. Es fehlte der polnische Trompeten-Veteran Andy Przybielski und so konnte sich die junge Saxophonistin Johanna Charchan mit ihrem freien und meist introvertierten Spiel, über die größtenteils romantizistischen Improvisationen des Pianisten Andy Lumpp, profilieren. Das Duo – zum Quartett durch Kontrabass und Schlagzeug ergänzt – verzichtete zwar auf strukturelle Vorgaben, glitt aber dennoch nie gänzlich in Atonalität und Arhythmik ab, sondern changierte dialogfreudig, allerdings mit leisen und abrupten Tönen zwischen musikalischer Un- und Ge-bundenheit.

Neben diesen deutsch-polnischen Kooperationen gab es in Leipzig auch genuin Polnisches zu hören und zu sehen. Auffällig stark vertreten war die junge Szene. Der erst 19jährige Pianist Mateusz Kolakowski hinterließ bei seinem Soloauftritt ein beeindrucktes Publikum. Das hatte sich sichtlich genussvoll den impressionistischen Pianoeskapaden des ehemals als „Wunderkind“ gefeierten jungen Mannes hingegeben und dessen frühreifen, an Keith Jarrett angelehnten Klavierstil bestaunt. Einen mindestens ebenso elaborierten Stil konnte der 26jährige Pianist Slawomir Jaskulke vorweisen, der sowohl solo als auch mit dem Zbigniew Namyslowski Quintet auftrat. Jaskulke stellte unter Beweis, dass er außer der Fähigkeit musikdienlich zu begleiten auch die Gabe besitzt, lange, teils sehr abstrakte, rhythmisch herbe, harmonisch ausschweifende und melodisch forschende Soli zu spielen, ohne die Spannungsbögen aus den Augen zu verlieren. Das ist ein Mann, auf den man achten sollte! Aus der Reihe der jungen polnischen Bands, die in Leipzig auf den Bühnen standen sind Pink Freud, Chromosomos und Robotobibok hervorzuheben. Auf unterschiedliche Weise aber auf durchgehend hohem Niveau repräsentierten sie das, was man als New Electric Jazz bezeichnen könnte, die logische Fortsetzung des Electric Jazz der 70er Jahre. Gemeint ist jene anwachsende Bewegung, die sich mit den technischen Möglichkeiten des 21. Jh. und den Sounds und Rhythmen der elektronischen Clubkultur in ihrer ganzen Bandbreite auseinandersetzt. Solchen scheuklappenlosen und unverkrampften Konzepten, jenseits der Eindimensionalität des über weite Strecken stupiden Nu Jazz, gehört die Zukunft und spätestens seit Nils Petter Molvaer und Co wissen wir, dass diese Jazzrichtung bereits schon jetzt kommerziell sehr erfolgreich ist.
Internationalen Erfolg in kommerzieller wie künstlerischer Hinsicht hatten und haben Musiker wie Dave Holland, Brandford Marsalis, die Gruppe Oregon, Ketil Björnstad, Terje Rypdal, John Abercrombie, Marc Johnson uva. Sie alle waren bei den 29. Leipziger Jazztagen zu hören. Sie haben Kostproben ihrer Kunst gegeben, brilliert, Eindruck gemacht, einige haben enttäuscht. Doch nicht sie standen diesmal im Mittelpunkt, sondern die Künstler aus unserem Nachbarland Polen – und das war gut so.

29. Leipziger Jazztage

11.-15. Oktober 2005

www.leipziger-jazztage.de

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