Ein sehr lebendiger Totensonntag in Leipzig

In der Peterskirche und im Gewandhaus finden zwei Konzerte mit dem MDR Sinfonieorchester und dem Westsächsischen Sinfonieorchester statt

Jean – Luc Darbellay lebt in der Schweiz und ist dort auch 1946 geboren. Grund genug für den MDR, sein Stück als „Schweizer“ Requiem anzukündigen. Gesungen wird allerdings lateinisch und da sich Darbellay auf den Originaltext der Totenmesse beschränkt, verstehen das die Meisten im Saal sicher besser als Schwyzerdeutsch. Von der Ankündigung bleibt vorerst nur der geografische Hinweis und natürlich Assoziationen an das Deutsche Requiem von Johannes Brahms.

Musik und Text entsprechen sich in Darbellays Requiem unmittelbar. Beim „Dies Irae“ gebärdet sich zornig der gesamte Klangapparat und der ist gewaltig: großes Orchester, Bassetthorn, Kontrabassklarinette, vier Wagnertuben, acht Hörner und nicht weniger als fünf Tamtams. Im darauf folgenden „Tuba Mirum“ werden dann auch tatsächlich die Posaunen so richtig „losgelassen“. Zu Beginn benötigt Fabio Luisi seine ganze Präsenz, um im Saal die notwendige Ruhe zu schaffen. Dann fast unbemerkt beginnt ein dumpfes Raunen, tiefe gezupfte Flächen werden durch Blech und Orgel gestützt. Dumpfe, sich umschlingende Linien, bis der von Michael Gläser einstudierte Chor einsetzt. Die ersten Worte werden geflüstert, immer noch sehr leise, bis nach fast fünfzehn Minuten das „Kyrie Eleison“ mächtig den Saal erfüllt, unterstützt von kraftvoll assoziierenden Hornmelodien. Leider war’s das dann auch schon, die durch das feine Gespür für die leisen Töne erweckte Erwartung auf mehr wird leider enttäuscht. Darbellay begnügt sich in den folgenden sechzig Minuten mit der der Neuen Musik so oft vorgehaltenen interessanten Beliebigkeit. Mit wenigen Mitteln beschäftigt er das riesige Orchester. Bestenfalls noch im „Confutatis“ erlangt die Musik überzeugende Momente: In beschwörenden Gesten steigert Luisi die Intensität der Stimmen zu einem riesigen schwerem Teppich bis sich nach leisem Flüstern, Kratzen und Klopfen Sopran und Harfe demütig in Reue üben. Die noch folgenden fünf Sätze bis zum abschließenden „Benedictus“ wiederholen die bekannten Muster. Im fast 150 Jahren alten Deutschen Requiem heißt es im dramatischen 6. Satz „Tod, wo ist dein Stachel? / Hölle, wo ist dein Sieg?“. Nach der heutigen Uraufführung müsste man annehmen, dass der Tod in der Schweiz von solcher Reibung verursachender Dramatik weit entfernt ist. Ob man Darbellays Requiem noch in 150 Jahren aufführen wird, darf man ernsthaft bezweifeln.

David Timm ist seit 2005 Universitätsmusikdirektor, nachdem sein Vorgänger und Lehrer Wolfgang Unger 2004 plötzlich verstarb. Er hat das Deutsche Requiem als Assistent Ungers mit dem Universitätschor einstudiert, heute führt er es zum ersten Mal in seiner Amtszeit selbst auf. Und dem nicht genug, zu Beginn ist er Solist im 1. Satze des Konzertes für Klavier und Orchester von Johannes Brahms. Auf diesen „Ohrwurm“, der musikalisch mit dem Requiem zusammenhängen soll, freut sich auch das Publikum in der ausverkauften Peterskirche.
Timms Intention, das Klavierkonzert voranzustellen, ist nachvollziehbar, was das Westsächsische Symphonieorchester unter Christiane Bräutigam dann aber abliefert ist einfach ärgerlich. Besonders bei den Bläsern werden ganze Einsätze verschluckt. Ohne jegliche Dynamik plätschert das Stück daher: „Brahms mit angezogener Handbremse“. Timm gelingt es erst gegen Ende sich von diesem Klotz zu lösen, trösten kann das nicht mehr. Leider gibt es obendrein dafür auch noch Applaus. Nach dem morgendlichen eher kuscheligen „Schweizer Requiem“ stellen sich bei Brahms‘ Requiem schnell die Nackenhaare auf. Der Universitätschor ist bestens präpariert, stimmgewaltig kann er das sich nur wenig steigernde Orchester in seiner negativen Wirkung mildern. Timms Sicht auf das nach Erlösung strebende Individuum ist sehr optimistisch. Mit forschen Schritten drängt er seinen Chor voran. Besonders im Sopran trifft das auf fruchtbaren Boden. Exzellent in der Artikulation hat Timm Mühe, die angemessene Balance der Stimmen zu wahren, immer wieder setzt sich der jugendliche Sopran durch. An sehr rhythmischen Stellen, beispielsweise im vierten Satz, ist Timm, der sich ja auch intensiv mit Jazz auseinandersetzt, in seinem Element. Brahms zum Teil drückende Texte unterstreichen die existenzielle Bedeutung des Todes, dass man sich davor nicht fürchten muss, unterstreicht die heutige jugendliche Interpretation in der Peterskirche. Zusammen mit der morgendlichen Uraufführung bleibt der Eindruck, einen sehr lebendigen Totensonntag in Leipzig erlebt zu haben.

2. MDR – Matineekonzert

Jean – Luc Darbellay (beb. 1946) Requiem für Soli, Chor und Orchester

Auftragswerk des MDR – Uraufführung
MDR Sinfonieorchester und MDR Rundfunkchor
Julie Kaufmann – Sopran, Iris Vermillion – Alt, Christoph Genz – Tenor
Markus Marquardt – Bass
Fabio Luisi – Dirigent

Sonntag, 20. 11. 2005, 11.00 Uhr, Gewandhaus Grosser Saal –

Johannes Brahms (1833-1897)
Konzert für Klavier und Orchester, Nr. 1 d-Moll op. 15, 1. Satz
Ein Deutsches Requiem für Soli, Chor und Orchester

Leipziger Universitätschor, Westsächsisches Sinfonieorchester
Davi Timm – Klavier
Viktorija Kaminskaite – Sopran, Bert Mario Temme – Bass
Christiane Bräutigam, David Timm – Leitung

16.00 Uhr, Peterskirche

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