Willkommen, Herr Generalmusikdirektor: Ricardo Chailly startet mit Verdis „Maskenball” (Ingo Rekatzky)

Giuseppe Verdi: „Un ballo in mascherra“
Oper Leipzig

Musikalische Leitung:Riccardo Chailly
Inszenierung:Ermanno Olmi
Ausstattung:Arnaldo Pomodoro
Choreographie:Paul Chalmer
Choreinstudierung:Romano Gandolfi / Sören Eckhoff

Premiere am 12.11.2005

Fotos: © Andreas Birkigt

Musikalische Leidenschaftlichkeit bei szenischer Verweigerung – Riccardo Chaillys spannungsvoll erwarteter Einstand als GMD der Leipziger Oper mit Verdis „Un ballo in maschera“


Gut zwei Monate nach der Einführung in das Amt des Gewandhauskapellmeisters hat Riccardo Chailly mit Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ nun sein Debüt als Generalmusikdirektor der Leipziger Oper gegeben. Ungeachtet der Tatsache, dass dieser Posten allzu lange vakant gewesen ist, verbindet sich mit dem Namen Chailly die Hoffnung, das hiesige Opernhaus werde musikalisch und szenisch in eine höhere, wenn nicht gar in die erste Liga aufsteigen, da der italienische Stardirigent auch im Bereich des Musiktheaters alles andere als unbeschlagen ist. Entsprechend hoch sind die Erwartungen und das überregionale Medieninteresse an Chaillys Debüt im Leipziger Orchestergraben, sodass selbst „arte“ die Vorstellung am 26. November live übertragen wird. Und fast scheint es, man habe bis zur Premiere am 12. November nur je drei Vorstellungen von „Zauberflöte“ und „Fidelio“ sowie die szenische Neueinstudierung einer gut 30 Jahre alten Choreographie angesetzt, um die Spannung bis ins Unermessliche steigen zu lassen.

Auch wenn das Budget keine Stars erlaubt, so sollen doch wenigstens in den vier zentralen Rollen Erfolg versprechende italienische Sänger der jüngeren Generation ihr Können unter Beweis stellen, wohingegen das Leipziger Ensemble in kleineren Partien das Bild abrunden darf. Als Garant für eine außergewöhnliche Inszenierung werden hingegen der hierzulande weniger bekannte italienische Filmregisseur Ermanno Olmi und sein Landsmann, der Bildhauer Arnaldo Pomodoro angekündigt.
Außergewöhnlich ist diese Inszenierung des „Maskenballs“ tatsächlich, denn während in letzter Zeit im Bereich der Oper dilettierende deutschsprachige Filmemacher dazu neigten, das jeweilige Werk mit ihrer Intention zu überfrachten, so verzichten Olmi und Pomodoro weitestgehend auf eine Deutung und begnügen sich mit einer starren Bebilderung der Handlung. Schon die ersten Szenen lassen wenig hoffen: Nachdem die überdimensionalen und fortan funktionslosen Bronzetüren den Blick auf die nahezu leere Bühne freigeben haben, formiert sich aus Chor und den stets Blickkontakt zum Dirigenten wahrenden Solisten ein Tableau, in dem die Sänger in präziser Abstimmung mit dem Orchester ihren Partien musikalischen Ausdruck verleihen. Allein auf der Ebene der Darstellung geschieht fast gar nichts, was sich auch im weiteren Verlauf der Inszenierung kaum ändern wird.
Die Vehemenz, mit der Olmi seinen Protagonisten, aber auch dem erneut eine gesangliche Meisterleistung abliefernden Chor jegliche Personenregie verweigert, ist erstaunlich. Mit Ausnahme des androgynen Pagen Oscar, der hin und wieder über die Bühne wirbeln, aber längst nicht sein ambivalentes Potential entfachen darf, müssen alle anderen Figuren, denen bestenfalls stereotype Bewegungen gestattet sind, selbst zu den höchsten emotionalen Ausbrüchen der Musik als blutleere Wesen erstarrt verharren: Gerade bei dem Gouverneur Riccardo ist es erstaunlich, mit welch stoischer Gelassenheit er seine verbotene Liebe zu Amelia erträgt, deren Gatten Renato gegenübertritt und von Ulrica erfährt, er werde durch die Hand eines Freundes sterben. Selbst im Augenblick des Todes wird Massimiliano Pisapia keine mimische Regung abverlangt und fast möchte man meinen, Regisseur Olmi wolle darstellen, wie sehr auf der Bühne des Lebens die eigentlichen Gefühle von einer Charaktermaske verdeckt werden. Dazu hätte es aber zumindest eines deutlichen Verweises, eines emotionalen Ausbruchs bedurft und so bleibt der Eindruck des Unausgegorenen: Hat Verdis 1859 uraufgeführte Oper „Un ballo in maschera“ schon durch die zensurbedingte Verlegung der Handlung vom Schweden des ausgehenden 18. Jahrhunderts ins koloniale Boston des 17. Jahrhunderts an politischer Kraft und dramaturgischer Geschlossenheit eingebüßt, so unterminiert das Produktionsteam jeglichen interpretatorischen Anspruch durch ihre Beschränkung aufs Dekorative. Eine Deutung des Werkes, sei sie nun politisch, symbolisch, psychologisch oder auch nur historisierend, ist nicht zu erkennen: Ort und Zeit sind in dieser Inszenierung trotz einiger Renaissance-Zitate in den Kostümen, bei denen man wohl nicht einmal die physisch-physiognomischen Voraussetzungen der Premierenbesetzung bedacht hat, nicht näher zu bestimmen.

Allerdings evozieren die statische Regie und die ästhetisch fragwürdige, von Pomodoros monumentalen Plastiken dominierte Ausstattung eine unfreiwillige Komik, wohingegen die wirklich komischen und sarkastischen Momente dieser Oper in der szenischen Verweigerung verpuffen. Zum unangefochtenen „Höhepunkt“ gerät somit die Ulrica-Szene: Nicht nur, dass die Behausung der Wahrsagerin wie ein Abrüstungsmahnmal der Friedensbewegung anmutet, so erinnert ihr Kostüm – ob seiner Stacheln im strubbeligen Fell euphemistisch vielleicht als eine Perchtenfigur der alpinen Fastnachtsbräuche zu interpretieren – in seiner Überformung leider nur an ein schrulliges Zeichentrickmonster, dem alles Mystische und Bedrohliche fehlt.
Ein Regiekonzept scheint sich für einen kurzen Moment erst im Finale zu zeigen: Während des titelgebenden Maskenballs präsentiert das Corps de Ballet vor dem Hintergrund einer aufgeschnittenen, wohl das „Theatrum Mundi“ symbolisierenden Weltkugel die Dreieckskonstellation zwischen Riccardo, Renato und Amelia als Spiel im Spiel, das in die Realität kippt: Renato erhält von seinem Double die Waffe, mit der er letztendlich den vermeintlichen Verführer Riccardo ersticht. Doch unabhängig davon, dass dieser späte Interpretationsansatz zwischen Sein und Schein losgelöst zum bisher Gezeigten steht, so ist die Szenerie der bizarr Maskierten längst wieder zum Tableau erstarrt, in dem auch die Choreographie zum bloß dekorativen Element reduziert wird.

Und so entsteht der bittere Nachgeschmack, dass Verdis Oper „Un ballo in maschera“ in einer konzertanten Aufführung wesentlich stärker hätte berühren können, zumal die musikalischen Voraussetzungen mehr als gegeben sind. Auch wenn die vier Gastsolisten ein wenig hinter den Erwartungen zurückbleiben, so werden sie den Ansprüchen doch weitestgehend gerecht. In der Partie des Riccardo behält Massimiliano Pisapias angenehmes Timbre selbst in den Spitzentönen, die er bisweilen etwas aus dem tiefen Register ansingt, seine Strahlkraft und schlägt sich auch in den furiosen Passagen durchaus wacker. Als Renato verfügt Franko Vasallo über einen markanten Bariton, den er vor allem im zweiten Akt effektvoll einzusetzen weiß, neigt aber generell zum Tremolieren. Großartige Momente als Amelia hätte Chiara Taigi, wenn sie die expressiven Spitzentöne ihrer Partie nur nicht allzu scharf gestalten würde. So ist sie zu Beginn des zweiten Aktes ständig der Gefahr ausgesetzt, dass ihr das elegisch-schöne Solo-Englischhorn, in dessen Motiv die Zerrissenheit der Amelia aufs Innigste ausgedrückt wird, die Show stiehlt. Im weiteren Verlauf entschädigt sie aber durch betörende Crescendi in der lyrischen Mittellage. Trotz angenehmer, auch ein wenig geheimnisvoller Stimme fällt Annamaria Chiuri als Ulrica leider etwas ab, da sie abgesehen von ihrem starken Tremolieren offensichtlich unter Beweis stellen will, dass sie sich auch in räumlich größeren Häusern akustisch durchzusetzen vermag.

Erfreulich hingegen, wie souverän und überzeugend sich das Leipziger Ensemble neben den Gästen behauptet: Während seines kurzen Auftritts als Silvano gefällt Hermann Wallén vor allem in den höheren Tonlagen mit jugendlich-lyrischem Bariton und versucht – obwohl von der Regie im Stich gelassen – sein unbestritten komisches Talent zu entfalten. Mit kräftig-sonorem Bass lassen Tuomas Pursio und Metodie Bujor in den Partien der Verschwörer Samuel und Tom stets aufhorchen und erzeugen einen wohligen Schauder. Das stimmliche Ereignis des Abends ist aber unbestritten Eun Yee You, der in der Hosenrolle des kecken Pagen Oscar auch als Einziger ein wenig szenisches Leben zugestanden wird: Scheinbar ohne Mühe gestaltet sie makellos und glasklar die scherzoartigen Koloraturen ihrer Partie und entwickelt hierbei eine klangschöne Natürlichkeit, sodass ihr Gesang wie im Augenblick entstanden erscheint .

Den Eindruck, dass der musikalische Erfolg des „Maskenballs“ in erster Linie den Kräften des hiesigen Hauses zu verdanken ist, verstärkt neben Chor und Leipziger Solisten vor allem eine Konstellation: Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester. Schon während der ersten Takte des Preludios, in dem zentrale Motive der Oper vorgestellt werden, gelingt es Chailly, das Publikum an sich und sein Orchester zu fesseln: Gerade die tiefen Streicher und Holzbläser entfachen hier einen dunklen, für das Gewandhausorchester so spezifischen Klang. Chailly versteht es, unplakativ die Spannungsbögen aufzubauen, gleichzeitig aber auch kleinste musikalische Motive freizulegen, sodass innerhalb der Musik vollzogen wird, was Olmi und Pomodoro ihrer gesamten Inszenierung verweigern: Das Erregen von Emotionen, das Entfachen von Leidenschaften und das Darstellen einer dramatischen Entwicklung. Und so ist es auch die Kombination des einzigartigen Gewandhausklanges mit der in den letzten Jahren erarbeiteten transparenten Präzision einerseits und Chaillys italienischer Leidenschaft andererseits, die – abgesehen von einem etwas ruppigen Pizzicato-Einsatz im dritten Akt – den Abend zu einem unvergleichlichen Erlebnis macht und fast zum Absoluten greifen lässt.

Bei alledem rechtfertigt dieses musikalische Erlebnis allerdings nicht eine nahezu statisch-konzertante Inszenierung, denn Musiktheater ist nun einmal eine Symbiose aus zwei Komponenten: Musik und Theater, die im Idealfall aufs Engste miteinander verbunden sind, sodass das Szenische in unmittelbarer Korrespondenz zu der musikalischen Entwicklung zu verlaufen hat. Hierin liegt aber das Grundproblem, das der Leipziger Oper in letzter Zeit den Weg zu einer überregionalen Beachtung verstellt hat, nämlich die Vernachlässigung des Szenischen. Die musikalischen Weichen zur Spitze sind hingegen gestellt.


(Ingo Rekatzky)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.