Die Vorfahren von Meyer und Brockhaus

Die Leipziger Universitätsbibliothek zeigt Enzyklopädien der Frühen Neuzeit

Um 1500 geriet die europäische Welt in Bewegung. Humanismus und Reformationsbewegungen, Erfindungen wie jene Gutenbergs und die Entdeckung Amerikas läuteten ein neues Zeitalter ein, die Frühe Neuzeit. Mit ihr begann auch eine neue Form der Wissenskultur. Der gebildete Wissensdurst schien unstillbar und die zum überkommenen Wissen tretenden vielfältigen Neuigkeiten verlangten nach Dokumentation und Organisation. Für diese Aufgabe bot sich das Buch besser an als jedes andere Medium. Dank der neuen Möglichkeit vielfältiger Herstellung konnte es, einst als handgeschriebene Kostbarkeit nur wenigen zur Verfügung stehend, nun gedruckt ein größeres Publikum ansprechen. In Form von Enzyklopädien fand das neue Wissen rasche Verbreitung unter den Gebildeten. Diese Lexika speicherten und organisierten das Wissen für den Rat suchenden Zugriff, handelte es sich nun um Einhorn oder Vanille, Gelee vom Elfenbein oder den Wetterstrick. Von der Nähe und Ferne der frühneuzeitlichen Wissenskultur zu der unsrigen erzählt die Ausstellung „Seine Welt wissen“ in der Leipziger Universitätsbibliothek. Die Schau präsentiert historische Enzyklopädien zwischen 1500 und 1750. Sie geben Bericht von jenem Wissen, das die Menschen damals bewegte.

Gleich einem Portal türmt sich im Eingang der Ausstellung Heinrich Zedlers vielbändiges Universal-Lexicon auf. Das Mammutwerk mit über 289.000 Einträgen eröffnet das Universum des frühneuzeitlichen Wissens. Enzyklopädien bedeuten Welten, sie deuten Welten. Anhand elf thematisch gruppierter Inseln werden diese Wissenswelten erfahrbar. „Die Welt der Technik“ zum Beispiel informiert über den Einfallsreichtum frühneuzeitlicher Ingenieure. Apparaturen zur Lastenbewältigung, Mühlen und militärische Maschinen, aber auch Spielereien wie Springbrunnen und Duftvasen bezeugen, wie sehr die Technik bereits die damalige Gesellschaft durchdrungen hat. Andere Welten versammeln primär praktische Ratgeber zu alltäglichen Verrichtungen, erschließen mit zum Teil phantastischen Einträgen Flora und Fauna oder zeigen die Nähe zwischen Naturwissenschaft und magischen Vorstellungen, wenn zum Beispiel die Beschreibungen chemischer Prozesse mit Praktiken der Alchemie vermischt werden. Der anatomische Blick führt ins Körperinnere. Darstellungen von zerteilten Kaulquappen und sezierten Leichen entfalten ihre ganz eigene Ästhetik, deren Faszination bis heute anhält.
„Die Welt des Altertums“ war ein wesentlicher Bezugspunkt für die frühneuzeitlichen Gelehrten. Hier wird das Heilige Land kartographiert und die Antike als kultureller Ursprung Europas zelebriert. Ein Werk bringt die biblische Überlieferung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang und erklärt zum Beispiel die Sintflut anhand fossiler Funde – so modern ist der Kreationismus also nicht. Berühmte Lebensläufe versammelt die Welt der biographischen Lexika. Neben Boccaccios wertvollen Frauenportraits sind hier die geistlichen Biographien sehr informativ. Diese gestalten sich zuweilen als Schlachtfelder des Glaubens, wenn konfessionell zwischen Katholiken und Ketzern unterschieden wird, und jene doch in anderen Werken harmonisch nebeneinander stehen: „Das Alphabet kann niemand beleidigen.“ Von geographischen Entdeckungen und den Gebräuchen fremder Völker berichtet „Die globale Welt“. Hierher gehören auch die Konservationslexika. Ihre Technik der kurzen Beiträge zu allgemeinen Themen ist bis heute aktuell. Schließlich zeugt „Die Welt der Wissenschaft“ vom zähen Ringen um Erkenntnis und der anhaltenden Neugier der Menschen.

Trotz der thematischen Vielfalt stellt „Seine Welt wissen“ kein Sammelsurium dar. In einer guten Gliederung präsentiert die Schau ausgewählte Exemplare als beispielgebend für den Reichtum frühneuzeitlicher Wissenskompilationen. Im Fokus stehen alleinig die Werke. Weder die Stichhaltigkeit ihrer Inhalte, noch die Prominenz der Autoren sind Thema: Gefragt wird einzig nach der Art der Ordnung. Die Ausstellung ist Schatzkammer und Kuriositätenkabinett in einem. Lassen manche obskuren und wunderlichen Einträge auch schmunzeln, so überwiegt das Staunen über die Existenz und Genauigkeit von Wissen, welches die moderne Arroganz jener Epoche nicht zugetraut hätte. Aufwand und Energie, die in den gezeigten Lexika stecken, zeugen vom schon damals hohen Stellenwert des Wissens. Gewiss, jene Welten und Ordnungen des Wissens waren anders geartet als die heutigen. Und doch finden sich die noch heute ordnungsstiftenden Prinzipien der Systematik und des Alphabets in den frühneuzeitlichen „Wissensmaschinen“ bereits angelegt. Für die Wissenstradierung ganz wesentlich war auch damals schon die Vernetzung von Wissen, wie die Netzwerke von Gelehrten und Korrespondenten, die unzähligen Neuauflagen und das Von-einander-Abschreiben dokumentieren. Die enzyklopädische Schau zeigt, dass Wissensdurst und Neugierde keine modernen Phänomene sind. Auch die Menschen der Frühen Neuzeit strebten nach Erkenntnis und Wahrheit in allen Gebieten. Man erfährt ferner von der Unabschließbarkeit solcher Projekte. In der Fülle des Wissens findet jede Ordnung ihre Grenzen, bleibt Fragment. Und wenn es ein schönes Fragment ist, wird es ein Buch, das vielleicht einstmals zum Ausstellungsstück wird.

Seine Welt wissen – Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit
Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig
vom 7. Januar bis 28. April 2006
Eintritt frei
Ausstellungskatalog zum Vorzugspreis von 24,90 €

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