Eine Sternstunde: Mozarts „Entführung aus dem Serail” in der Inszenierung von Dietrich Hilsdorf (Sebastian Schmideler)

Wolfgang Amadeus Mozart: „Die Entführung aus dem Serail“
Inszenierung: Dietrich Hilsdorf
Bühne: Dieter Richter
Kostüme: Renate Schmitzer

Gewandhausorchester
Musikalische Leitung: Frank Beermann

Oper Leipzig

Alles ganz anders – Verführung im Serail zu Mozarts 250. Geburtstag

Man soll die Feste feiern wie sie fallen. Auf den Tag genau zum 250. Geburtstag von Mozart hatte darum die Leipziger Neuinszenierung der „Entführung aus dem Serail“ Premiere. Aber wenn es darum geht, sich einem Mann wie Mozart zu stellen, kommt es vor allem darauf an, sich etwas ganz Besonderes einfallen zu lassen.
Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass Dietrich Hilsdorf eine neuartige und frappierende Interpretation gelang, die – wenn auch zeitverzögert – endlich den längst überfälligen Anschluss an eine Mozart-Exegese vollzieht, die regietechnische Maßstäbe setzt und sich auf der Höhe der Zeit bewegt. So ist passend zum Jubiläum ein Mann von Format in die Leipziger Oper eingezogen, der den Abend zu einer Sternstunde für die Intendanz von Henri Maier machte, denn entstanden ist ein Meisterwerk der psychologisch-realistischen Interpretation.

Die übliche Vorstellung von der „Entführung“ im angestaubten Opernführer lautet so: „Ein Lied von junger Liebe und wieder gewonnener Freiheit – das ist die ‚Entführung‘, die in Mozarts glückliche Brautzeit mit Konstanze Weber fällt. Spielerische Heiterkeit, drastische Komik und Märchenzauber wohnen in dem Werk dicht beieinander; aber das Schönste sind die menschlichen Werte dieses Singspiels“. –
Bei Dietrich Hilsdorf ist das alles ganz anders. Die Ouvertüre setzt kaum ein, die Musik drängt beschwingt vorwärts – da wird auf der Bühne, die ein morbides, amorphes Barock-Palais darstellt, ein Österreicher am Kronenleuchter aufgeknüpft, so ganz nebenbei, während splitternackte, gedemütigte Gefangene mit Zopfperücke den Eroberern ein Bad bereiten und andere gefoltert werden. Die Janitscharentruppe in voller Montur lässt keinen Zweifel über den Zweck ihres Hierseins aufkommen: Szenen aus dem besetzten Wien im Juli 1782.
Hilsdorf verlagert die der Türkenmode des 18. Jahrhunderts verpflichtete platt exotistische Szene aus dem Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts in das Josephinische Wien, genauer gesagt in die Wiener Spitalgasse 16a, direkt neben dem berühmten Narrenturm, zum Zeitpunkt des 16. Juli 1782. Seit dem 14. Juli ist die Stadt von den Türken besetzt und zur Plünderung freigegeben worden. – Schon das ist eine Assoziationskette von Format: Am 14. Juli 1789 brach die Französische Revolution aus, am 16. Juli 1782 wurde Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Wien uraufgeführt, auch der neue Schauplatz neben dem Narrenturm ist eine Allegorie von Shakespearescher Schlauheit.

Der Clou von Hilsdorfs Inszenierung besteht aus einem stringent und mit aller Konsequenz durchgeführten „Verfremdungseffekt“ im Umkehrschluss. Denn während Brechts V-Effekt die Wirklichkeit verzerrt, um Zusammenhänge zu verdeutlichen, geht es Hilsdorf darum, das durch derbe und fratzenschneidende Komik Verzerrte aus der Vorlage wieder in historische Wirklichkeit zurückzuholen. Der Zerrspiegel wird hier als Entzerrspiegel verwendet und ist damit das entscheidende Instrument, um das platte Singspiel für eine der Gegenwart gewachsene Auslegung zu retten.
Wozu der Aufwand? Jubiläen wie der 250. Geburtstag Mozarts sollten eben nicht Anlass sein zu feuilletonistischen Salbadereien über das Genie oder den Revolutionär Mozart, sondern sie können auch dazu dienen, eingeschliffene klischeehafte Bilder zu überdenken, sie durch angemessenere und wahrhaftigere zu ersetzen und den Blick auf das Gegenwärtige in Mozart zu schärfen. Dann wird man feststellen, dass Mozarts Werk tragfähig genug ist, um so manche Last der Postmoderne auf seinem Rücken auszuhalten. Dietrich Hilsdorf macht die Probe aufs Exempel. Seine Inszenierung der „Entführung“ ist ein solcher, sehr freier, aber sensibler und scharfsinniger Versuch, kluges Musiktheater am Wendepunkt zu einem „neuen Realismus“ zu zeigen. Und weil Hilsdorf ein aufrichtiges und ehrliches Anliegen hat, genug Bühnenerfahrung und psychologisches Gespür besitzt, gelingt es ihm, die Vorlage so zu bearbeiten, dass dieses Singspiel über sich hinauswachsen kann.

Denn Hilsdorf erkennt in der wünschenswerten Klarheit: Hinter der scheinbar verspielten Leichtigkeit von Mozarts Musik steht ein scharfer Blick für die Doppelnatur des Innenlebens. Mozart hat mit ziemlich klar erkennbarer Absicht seine Musik genutzt, um die unsichtbaren inneren Bewegungen der Charaktere zu materialisieren. Er hat Musik als Schwingungen psychischer Befindlichkeiten erzeugt, Noten als deren Seismographen instrumentalisiert. Und diese Erkenntnis versucht der Regisseur auf adäquate Weise unmittelbar in das von ihm bearbeitete Handlungsgeschehen zu integrieren und durch subtile Gestaltung den verborgenen Tiefsinn der Musik sichtbar zu machen. Hilsdorfs Kunst besteht dabei in der symbiotischen Verbindung von Oper und Schauspiel, sodass er die Wurzel des Wortes „Musiktheater“ wieder auf seine Grundbedeutung zurückführt und Musik als Theater zeigt.
Dabei kommt ihm auch entgegen, dass er auf die aus der Antike überkommene Tradition der Gottschedschen Einheit von Ort und Zeit der Handlung zurückgreift (deshalb entfällt auch die Pause), sodass die Eindrücke desto unmittelbarer und wie aus dem Moment heraus geboren erscheinen.
Der Charakter des Buffohaften und Karnevalesken im Singspiel wird umgekehrt zu einer photorealistischen, postmodernen Tragödie von berückendem Ernst mit Anklängen an Shakespearesche Spiegelmetaphorik. Tragödienhaft kann das Singspiel aber nur werden, weil die unaufklärbare Uneindeutigkeit und Zerrissenheit des Innenlebens der Figuren ihnen letztlich zum Verhängnis wird. Dazu gehört vor allem, dass die rokokohafte Tändelei um die Erotik hier durch geschickt eingebaute Bewegungen und Leerstellen in einen handfesten Vollzug des Liebesaktes umgedeutet wird: Verführung im Serail. Blonde und Osmin geben sich dem puren Trieb hin, bei Konstanze und Bassa Selim liegen die Dinge weitaus komplizierter. Die persönlich menschliche, militärische und politische Größe des Bassas macht ihn in jeder Hinsicht zu einem begehrenswerten Mann, der Konstanze begreiflicherweise nicht widerstehen kann.
Aus der osmanischen Witzfigur Osmin und aus dem nur tugendhaften Bassa Selim werden nun die eigentlichen tragischen Helden, aus den ernst gemeinten Singspielhelden Pedrillo und Belmonte (hier als spanische Durchreisende gekennzeichnet) werden absurde Komiker und Durchschnittstypen, über die aber niemand lachen kann. Die vermeintliche Empfindsamkeit und humane Gesinnung der ehemaligen Singspielhelden wird aufgelöst, denn einmal in Racheekstase geraten, wird auch bei ihnen die Bereitschaft zur Brutalität sichtbar, als der Zufall ihnen die Rachemöglichkeit an Bassa Selim zuspielt. Und umgekehrt: Der vermeintlich grausame Osmane Bassa Selim zeigt schließlich menschliche Größe durch seine uneigennützigen Empfindungen für Konstanze, um derentwillen er Osmin opfert, grausam und großmütig zugleich. Es wird deutlich: Gewalt ist ein allgegenwärtiges Phänomen unmittelbar unter uns und ist nicht nur auf exotische Länder zu projizieren. Durch die Streichung der Zwischentexte zum anderen wird ein tragisches Motiv außerordentlich wirkungsvoll herausgearbeitet. Denn Bassa Selims Monologe bestehen hier aus einer Montage von Passagen aus arabischen Gedichten, Shakespeares „Sturm“, „Was ihr wollt“ und Goethes „Iphigenie“ – viel diskutierte Bühnenliteratur der 1780er, die Mozarts Musik viel mehr gewachsen sind als das platte Singspielgeplauder.

Osmin wird bei Hilsdorf zur tragischen Figur, weil er selbst zum Opfer seiner eigenen unbeherrschten Grausamkeit wird, indem er den Europäern nicht verzeihen will, damit eine Gefahr für den Vollzug des Herrscherwillens darstellt und aus diesem Grund mit derselben Perfidie des Grausamen auf einen Wink Bassa Selims von Janitscharen erschossen wird. Bassa Selims angeblich große Gnade wiederum, die Europäer (oder vielmehr Konstanze) am Ende in ihre Freiheit zu entlassen, entpuppt sich hier als Fluch und Rache, weil der Osmane weiß, dass sie ihre Freiheit dazu nutzen werden, um sich selbst in ihrer verdorbenen europäischen Welt zu Grunde zu richten.

Das ruinöse Barock-Palais als Bühnenraum von Dieter Richter symbolisiert photorealistisch eine von innen morsche Gesellschaft, die so sehr vom Zerfall bedroht ist, dass sie angreifbar wird für die fremde Kultur. Der während der gesamten Aufführungsdauer über die Bühne schwebende Dunst zeigt auch optisch die Klimaschwankungen der Befindlichkeit der Personen an. Mit den authentischen, mit Farbenmetaphorik spielenden, osmanischen und dem Rokoko verpflichteten Kostümen von Renate Schmitzer arbeitet die Inszenierung ebenfalls Sinn tragend. Bassa Selim versucht zum Beispiel mit einem Kostüm der Hofgesellschaft die Gunst Konstanzes zu gewinnen.
Bestechend sind die Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten, die durch Leerstellen als Motive der Handelnden übersetzt werden. Überall Brutalität, das Nebeneinander von zeremonieller, staffagehafter Zivilisation und hervorbrechender unverhüllter Grausamkeit, das ganze Chaos menschlicher Empfindungen, das jederzeit beängstigend kippen kann von Liebe zu Tod, von Lust zu Rache.
Dietrich Hilsdorf hat eine Regiearbeit geleistet, die die Ressourcen des Ensembles hervorragend zu nutzen verstand. Schwungvolle Bühnenabläufe, ein bewusster und klug durchdachter Bewegungs- und Aktionsreichtum und die Nähe seiner Inszenierung zum lebendigen Schauspiel (und nicht zum bühnenrasselnden Theatralischen) lassen das erzielte Ergebnis als maßgebend erscheinen. Es entsteht eine Inszenierung von geradezu filmischer Qualität und Präzision, ein meisterhaftes Psychogramm der Funktionsmechanismen von Macht und Liebe.
Der Schauspieler Frank Köbe ist eine der großen Bereicherungen des Abends. Mit der wunderbaren Kristine Hansson als Konstanze ist eine Stimme präsent, die man in diesem Haus nicht nur gern wiederhören möchte, sondern die mit ihrer astralen Klarheit ganz die „geläufige Gurgel“ repräsentiert, die Mozart vorschwebte. Robin Johannsen als Blonde bringt das Verspielte, Lockende in ihrer Interpretation sowohl darstellerisch als auch durch ihre vitale und sprühende Stimme zum Tragen. Stanley Jackson und Dan Karlsström, hier Protagonisten des Oberflächlichen, Künstlichen und eigentlich Lächerlichen, kommen dem in ihrer Interpretation von Belmonte und Pedrillo auch durch schauspielerisches Können entgegen. James Moellenhoff als Osmin beeindruckt durch die Wucht und Fülle seines Auftretens und seiner kraftvollen Stimme, eine bedrohliche, authentisch suggerierte Partie, die den Ernst der Lage vollauf erfasst und wie aus einem Guss vermittelt erscheint.

Auffällig ist insgesamt, dass die Tragödie durch Hilsdorf zur Spieloper avanciert. Nichts ist dem Zufall überlassen, ein Reigen an Einfällen und Abläufen bis zur Nuance motiviert und bis in die letzte Bewegung hinein spielerisch montiert. So entsteht die wirklichkeitsnahe Aura dieser Interpretation, die den Zuschauer tief beeindruckt entlässt. Dass das Gewandhausorchester unter dem präzisen und allseits aufmerksamen Frank Beermann der Musik eines Komponisten, unter dessen Leitung es einst spielte, alle Ehre machte, verstand sich an diesem 250. Geburtstag von selbst. – Man kann nicht anders, als alle Beteiligten nur ermuntern, dieses Niveau weiter zum Standard auszubauen.

(Sebastian Schmideler)

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