Constanze Lauterbach inszeniert Heiner Müllers „Zement” (Roland Leithäuser)

Heiner Müller: Zement
Nach einem Roman von Fjodor Gladkow
Regie: Konstanze Lauterbach
Bühnenbild: Kathrin Frosch
Kostüme: Karen Simon

Darsteller: Stefan Schießleder, Stephanie Schönfeld, Julia Berke, Stefan Kaminsky u.a.

Schauspiel Leipzig, Theater hinterm Eisernen
Premiere am 25. Februar 2006

Bilder: Rolf Arnold / Schauspiel Leipzig


Mehr Müller wagen!
Constanze Lauterbach inszeniert „Zement“ im Schauspiel Leipzig

Während sich in deutschen Großstädten die Müllberge türmen und die Bedenkenträger der Arbeit debattieren, ob Deutschlands öffentlich Angestellte achtzehn Minuten pro Woche mehr arbeiten sollen, wird im Theater hinterm Eisernen des Schauspiels Leipzig auch am Samstagabend noch kräftig geschafft: Da ruckelt der Zementmischer, fließt Wasser durch die Rohre, werden Drähte und Leitungen gespannt. Was nach Arbeit aussieht, macht aber allen Beteiligten Freude. Über dreißig Jahre nach seiner Erstaufführung am Berliner Ensemble, feiert Heiner Müllers Stück „Zement“ über die frühen Jahre der Sowjetunion Premiere am Schauspiel Leipzig.

Entstanden ist Müllers Werk nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Gladkow aus dem Jahr 1924. Ein opulentes Werk des sozialistischen Realismus in der Literatur, würzt Müller seine Adaption von 1973 mit archeteypischen Momenten griechischer Mythologie und der Vision einer neuen, befreiten Gesellschaft. Für Müller, der bis in die späten sechziger Jahre von der offiziellen DDR-Kultur geächtet war, bedeutete das Stück trotz seines sehr kritischen Gehaltes eine Art Rehabilitation als Staatskünstler. Was in den frühen Siebzigern noch unter dem Eindruck staatlicher Zensur und Rechtfertigung Gestalt auf der Bühne annahm (nachzulesen in einer Reclam-Ausgabe der DDR von 1975, die Gladkows Roman, Müllers Stück und Notizen zur Inszenierung versammelt), muss in Zeiten jenseits der großen Gesellschaftsentwürfe und vor dem Hintergrund des allerorten schwelenden „postdramatischen Theaters“ naturgemäß anders übersetzt werden. Constanze Lauterbach und ihrem großartigen Ensemble gelingt dies mit Nachdruck.

Die Fabel des Stückes liest sich wie von Müllers Mentor Brecht am Reißbrett erdacht. Der Schlosser Gleb Tschumalow (Stefan Schießleder) kehrt nach drei Jahren 1921 aus dem Bürgerkrieg in sein Dorf zurück, das vormals eine Industriestadt war. Das große Zementwerk ist stillgelegt, seine Frau Dascha (Stephanie Schönfeld) führt die emanzipierten Kommunistinnen des Ortes an und entzieht sich dem Begehren ihres Mannes – er hat sie an die Revolution verloren, und, wie es nach und nach zum Vorschein kommt, auch an andere Männer. Der Heimkehrer Tschumalow in seiner Gebrochenheit dem Protagonisten Beckmann aus Borcherts „Draußen vor der Tür“ nicht unähnlich, nimmt sein Schicksal selbst in die Hand und setzt alles daran, das alte Zementwerk wiederzueröffnen. Schützenhilfe erhält er dabei von dem Ingenieur Kleist, einem Bürgerlichen, mit dem er eine Zweckgemeinschaft eingeht. Die Hindernisse beim Wiederaufbau sind in erster Linie nicht logistischer Natur – die Genossen, allen voran der Vorsitzendes des örtlichen Exekutivkommitees Badjin und der intellektuelle Bilderstürmer Sergeij Iwagin, behindern Tschumalows Ehrgeiz und wollen erst die Säuberungen von allem, was noch an die bürgerliche Ära erinnert, abschließen. Dabei macht Iwagin noch nicht einmal vor seiner eigenen bourgeoisen Familie halt. Tschumalow verliert seine Frau und gewinnt schließlich doch die Unterstützung der örtlichen Genossen, die Produktion im Zementwerk läuft wieder an, die Opfer des Krieges sind begraben und schon fast vergessen, der konkrete Sozialismus beginnt.

In vierzehn Einzelszenen erzählt Müllers Stück diese Geschichte, jede einzelne Szene ist mit einem Titel versehen. Oft genug gemahnen diese an die großen antiken Mythen, anfänglich in der „Heimkehr des Odysseus“, bei der Tschumalow gleich dem griechischen Helden seine Heimat verwüstet und seine Frau im Kreis ihrer Freier ertragen muss, später dann in „Herakles 2 oder die Hydra“ und im „Medeakommentar“, der eindringlich Daschas Schicksal erläutert, die zwar zur überzeugten Kommunistin gereift ist, in ihrer neuen Rolle aber weder für Mann noch Kind Platz sieht und ihr Erstgeborenes weggegeben hat. Müllers Rekurs auf die antike Mythologie ist beinahe ein Dauerbrenner in seinem Werk und hat nur bedingt mit dem Ansinnen zu tun, die DDR-Zensur mit dem Zitieren der alten Stoffe in Sicherheit zu wiegen. Tatsächlich geht es ihm auch in „Zement“ um den Mythos vom (neuen) Menschen: Tschumalow kommt einem modernen Herakles gleich, der zielstrebig und visionär eine Arbeit nach der anderen vollbringt, ohne dass seine Umwelt dies zu würdigen wisse.

Trotz der Zeitlosigkeit des Inhalts ist nicht zu leugnen, dass viele Aspekte des Stücks mit dem Untergang der sozialistischen Diktaturen ihre Sprengkraft verloren haben. Umso höher ist Contanze Lauterbachs Verdienst zu bewerten, dem Stück in ihrer Inszenierung eine moderne Bildsprache und mitunter einen neuen Fokus gegeben zu haben. Wo Gladkow und Müller den historischen Hintergrund der Neuen Ökonomischen Politik der frühen Sowjetunion und die damit einhergehende Verelendung von Menschen und Gedanken thematisieren, richtet Lauterbach ihre Anstrengung auf das menschliche Zusammenleben der Gebeutelten. Stefan Schießleders Tschumalow ist ein zwar gebrochener und betrogener Held, aber mithin ein Idealist, der nicht nur für das Werk, sondern auch um die Liebe seiner Frau kämpft. Dascha ist nicht weniger zerrissen, aber scheinbar empfindungslos für die utopiefreie Liebe geworden. So geht es beinahe allen. Das farbenfrohe Bühnenbild von Kathrin Frosch, die musikalischen Einspielungen aus „Doktor Schiwago“ und die mitunter musicalhaft choreographierten Massenszenen beschwören zwar einen historischen Geist, setzen ihm gleichzeitig aber eine positive Vision vom gemeinschaftlichen Zusammenleben entgegen, Sozialismus hin oder her. Auch verzichtet Lauterbachs Inszenierung dankenswerterweise auf eine allzu grelle, kunstbluttriefende Interpretation, wie sie den Stücken Müllers in jüngerer Vergangenheit leider allzu oft angetan wird. Neben Stefan Schießleder ragen unter den Darstellern besonders der eilfertige Iwagin von Stefan Kaminsky und die junge Kämpferin Motja (Julia Berke) heraus, die in der Ambivalenz ihres Spiels nachdrücklich die Verstörung des Subjekts durch Krieg und Entbehrung anzeigen.

In einer Rezension des Gladkow-Romans von Anna Seghers aus dem Jahr 1927 heißt es abschließend: „Es ist noch zuviel von Liebe und zuwenig von Zement die Rede.“ Constanze Lauterbachs Leipziger Inszenierung der Adaption des Stoffes ist dafür zu danken, dass es dabei bleibt.

(Roland Leithäuser)

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