Wer entdeckt hier wen?

Im Gewandhaus findet das erste „Entdeckerkonzert“ mit Chailly und Stadtfeld statt

Wurde Martin Stadtfeld in Leipzig entdeckt? 2002 hat er den Bachpreis der Stadt gewonnen. Er war damals 21 Jahre jung mit Ambitionen auf mehr. Die Einspielung von Bachs „Goldberg-Variationen“ brachte 2003 große mediale Aufmerksamkeit. Die Reihen der Feuilletons standen geschlossen, man war sich einig, wieder mal einen Shooting-Star entdeckt (geschaffen) zu haben. Heute kehrt Stadtfeld mit seinem Debüt im Gewandhaus erstmals nach Leipzig zurück.

Riccardo Chailly hat in vielen Interviews sein Bekenntnis zur zeitgenössischen Musik unterstrichen, leider darf sich das Leipziger Publikum nach der Uraufführung von Wolfgang Rihms „Verwandlung 2“ zum Einführungskonzert des Maestros im September vergangenen Jahres heute erst zum zweiten Mal auf Entdeckungsreise in Sachen Neue Musik begeben. Nach Rihms klangmächtigem Bekenntnis zur Atonalität und der ausgelassenen Freude an verwirrenden Dissonanzen steht heute die Klaviersonate op. 1 des Schönberg-Schülers Alban Berg auf dem Programm.

Chailly hat sich gut vorbereitet. Anhand von Tonbeispielen, Stadtfeld am Klavier, erläutert er seine Sicht auf Bergs Sonate, Überschrift „Kampf gegen die Atonalität“: Das musikalische Motto in h-Moll zu Beginn des Stückes versinkt in einer polyphonen atonalen Struktur. Berg entwickelt mehrdimensionale Überlagerungen, bis die Musik nach ungefähr elf Minuten wieder zum Anfang zurückkehrt. Das h-Moll-Motto setzt sich gegen die atonalen Strukturen durch. Hat die Tonalität das Rennen gemacht? Das lässt Chailly offen! Stadtfeld versucht sich im Dialog mit Chailly aus seiner bloßen Interpretenrolle zu lösen. Er sieht einen melancholischen jungen Berg, zerbrechliche Strukturen erinnern ihn an Bach und Barock, gleichzeitig sieht er dann wieder erfrischende Genialität. Wie schwer es doch ist, anschaulich Musik zu beschreiben!

Stadtfelds anschließender Vortrag wirkt blass, ohne eine erlebbare Interpretationsidee rast er technisch versiert durch die Partitur. Wie weichgespült wirkt Bergs klares Bekenntnis zu seinem Lehrer Schönberg. Manieristisch verbindet er verschiedene Themen, Strukturen verschwimmen dadurch oder gehen verloren. Das gut gefüllte Gewandhaus applaudiert am Ende freundlich. Stadtfeld wechselt ins Publikum.

Endlich kann der Maestro mit der Orchesterbearbeitung von Theo Verbey selbst aktiv werden. Jetzt mit großem Orchester werden zu Beginn wieder Klangbeispiele erläutert. Faszinierend zu erleben, mit welch physischer Konzentration Chailly seine Gewandhausmusiker aus dem Stand in die Höhe katapultiert. Das Schlagzeug muss er dann doch etwas zügeln „bitte nicht zu temperamentvoll, ich liebe Temperament, aber bitte unter Kontrolle“ – natürlich seiner eigenen. Verbeys Bearbeitung geht sehr spielerisch mit der Auseinandersetzung zwischen Tonalität und Neuem um. Dynamische Teile werden klassisch polyphon entwickelt, kontrastierend dabei Streicher und Holzbläser. In ruhigeren Abschnitten hat er die modernen Strukturen Bergs weiterentwickelt. Flimmernde flächige Violinen werden von eigenartig trockenen Aktionen der Harfe gestützt. In der spielerischen Auseinandersetzung verliert sich zum Teil der Zusammenhang des Stückes, das Motto in h-Moll fängt die Ausbrechungen dann immer wieder ein.

Man darf gespannt sein, wie die Auseinandersetzung mit Neuer Musik unter dem neuen Gewandhauskapellmeister weiterentwickeln wird. In der ersten Spielzeit gab es Sachen Unbekanntes, nie Gehörtes eher wenig zu entdecken, trotz Entdeckerkonzert!

1. Entdeckerkonzert

Alban Berg (1885-1935):

Sonate op. 1
(Originalfassung für Klavier solo, 1909)

Sonate op. 1
(Bearbeitung für Orchester von Theo Verbey, 1984)

Gewandhausorchester
Riccardo Chailly – Dirigent
Martin Stadtfeld – Klavier

Dienstag, 15.02.2006, 20 Uhr, Gewandhaus, Großer Saal

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.