Der Blick über den Tellerrand: Ein Nachtrag zur Berlinale 2006 (Diana Kluge)

Die 56. Internationalen Filmfestspiele in Berlin
09.-19.02.2006

Ein Nachtrag: Der Blick über den Tellerrand 1. Bosien: „Grbavica“, Jasmila Žbanic: Gewinner des Goldenen Bären
2. Korea: „Host & Guest“, Shin Dong-il
3. Irak: „Narcissus Blossom“, Masoud Arif Salih; Hussein Hassan Ali
4. Iran: „Offside“ : Jafar Panahi: Großer Preis der Jury

Die Bären sind verteilt, der rote Teppich eingerollt. Zehn Tage lange wurde Berlin zum Mekka für Filmenthusiasten, Regisseure und Schauspieler.
Während ein Großteil der Wettbewerbsfilme wie etwa Oskar Roehlers „Elementarteilchen“ oder Robert Altmanns „A Prairie Home Companion“ enttäuschten, sorgten vor allem ausländische Produktionen im Forum und Panorama für spannendes und abwechslungsreiches Kino. Einige dieser Filme sollen hier kurz vorgestellt werden.1. Bosnien: Vergangenheit die nicht vergeht

Der diesjährige „Goldene Bär“ Gewinner „Grbavica“ ist ein Spielfilmdebüt der bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanic und bewegendes Abbild der bosnischen Nachkriegsgesellschaft, die korrupt und gewalttätig am Abgrund tanzt. Mitten in dieser Welt lebt Esma mit ihrer Tochter Sara. Esma arbeitet in einem Nachtlokal als Kellnerin und ist gerade dabei, das Geld für einen Schulausflug ihrer Tochter zusammen zu sparen. Sara wird langsam erwachsen und stellt Fragen über ihren Vater. So beginnt die Lüge, Saras Vater sei ein bosnischer Freiheitskämpfer und im Krieg gefallen, zu bröckeln. Schritt für Schritt kommt die grausame Wahrheit ans Licht.
Zbanic vertraut ganz auf diese Geschichte und auf das Schauspiel ihrer beiden Hauptfiguren und tut gut daran. Nah bleibt die Kamera an den Gesichtern der beiden Frauen. Der Film lebt vom intensiven Spiel Mirjanas Karanovi? als Esma. Es ist ein Sich-Winden und langsames Öffnen einer Frau, der das vergangene Leben zuviel zugemutet hat. Am Ende des Films schreit Esma ihre Geschichte brutal heraus, sie öffnet sich und es scheint als ob beide, Mutter und Tochter, eine zweite Chance bekommen, diesmal alles ein wenig besser zu machen.
Zbanic ist eine schonungslose Momentaufnahme des ehemaligen Jugoslawiens gelungen. Eine verrohte Gesellschaft in der ein Menschenleben nicht viel wert ist und sich niemand kümmert, wie du überlebst. Eine Gesellschaft in der die Vergangenheit totgeschwiegen wird, solange bis man nicht mehr kann. 2. Korea: Von den Schwierigkeiten erwachsen zu werden und es zu sein

Drei bemerkenswerte Filme aus Korea zeigen, dass dieses Filmland mit starken Geschichten und beindruckenden Bildern überzeugen kann. Der junge Regisseur Shin Dong-il erzählt in „Host & Guest“ auf tragikomische Weise von der Begegnung zweier ungewöhnlicher Menschen in Soul und liefert damit gleichzeitig ein faszinierendes Porträt über die Einsamkeit in der Metropolenstadt. Ho-Jun von der Frau verlassen und arbeitsloser Filmdozent, mit misanthropischen Zügen lebt in den Tag hinein, ist einsam und weiß nichts mit sich anzufangen. Da begegnet er dem jungen Zeugen Jehovas Gye-Sang, der für seinen Glauben einsteht und täglich mit Vorurteilen konfrontiert wird. Er verweigert den Dienst an der Waffe und wird später ins Gefängnis dafür gehen. Die beiden so unterschiedlichen Charaktere verbringen wenige Tage miteinander und doch genug, um Ho-Jun ins Leben zurück zu holen und Verantwortung zu übernehmen. Dong-il erzählt diese Geschichte der Annäherung in spritzigen Dialogen, mit viel Situationskomik und in langen, ruhigen Einstellungen. Ihm gelingt hier mit Leichtigkeit ein Plädoyer für die merkwürdigen Kauze dieser Welt und für ein tolerantes Miteinander.

„The Peter Pan Formula“, der Debütfilm von Cho Cang-ho, ist eine Reise in die Abgründe des Erwachsenwerdens, des Abschiednehmens und Neubeginns. Han-soo ist 14 und bester Schwimmer seiner Schule. Doch eines Tages versucht sich seine Mutter das Leben zu nehmen und liegt im Koma. Von da an beginnt sich sein altes Leben aufzulösen und der Junge wird langsam erwachsen. Er verliebt sich in die Nachbarin eine scheue Klavierlehrerin und erlebt mit ihr seine ersten sexuellen Fantasien. Cho Cabg-ho erzählt diese Geschichte langsam und mit viel Liebe zu seiner Hauptfigur.
Hin und her gerissen zwischen der Einsamkeit und Sorge um seine Mutter und der erwachenden Sexualität, bleibt die Kamera nah bei Han-soo. Die Figuren in diesem Film haben sich nicht viel zu sagen und so erzählen die Bilder. Schade nur, dass am Ende Cang-ho die Fäden entgleiten und der verwirrende Schluss einen ratlos zurücklässt.

„Dear Pyongyang“, ein Dokumentarfilm aus Japan, ist eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte der Filmemacherin und ihrer Heimat, dem kommunistischen Norden Koreas. Yang Yong-hi stammt aus einer der vielen nordkoreanischen Familien, die nach dem zweiten Weltkrieg im Japanischen Exil leben. Die Eltern sind glühende Verehrer von Kim Il-sung, ihr ungebrochenes Vertrauen in den kommunistischen Führer stößt bei ihrer Tochter auf Unverständnis, denn das Leben ist hart und ein einziger Kampf ums Überleben. Der Film fesselt, weil er ein Stück Zeitgeschichte vor Augen führt. Als Exil-Koreaner sind die Eltern in Japan nicht gern gesehen und so stillt der kommunistische Glaube ein Stück Sehnsucht, liefert Anerkennung und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Am Ende der Dokumentation zeigt der Vater erste Zweifel. Doch anstatt hier zu enden, zwingt die Filmemacherin ihren Vater nach einem Schlaganfall weiterhin unbarmherzig vor die Kamera. Die Auseinandersetzung mit Lebenslügen, wird zu einer privaten Familientragödie, die so nicht ins Bild gehört.3. Irak: Auf der Suche nach einer eigenen Filmkultur

Die Kurden kämpfen seit Jahren um ein eigenes Land. Auf der Berlinale lief nun ein kurdischer Film aus dem Irak, dessen Bestehen schon eine kleine Sensation darstellt, denn es gibt bis jetzt keine eigene Filmkultur dieses Volkes. Sieht man „Narcissus Blossom“ unter diesem Aspekt, dann kann man auf spannende und traurige Geschichten in den nächsten Jahren hoffen. Sieht man ihn unter filmästhetischen Gesichtspunkten, so kann man Masoud Arif Salih und Hussein Hassan Ali zu viel des Guten vorwerfen. In 80 Minuten werden mit Laiendarstellern die Grundprobleme des kurdischen Volkes im Irak angerissen. Von der ständigen Vertreibung und Umsiedlung, über die grausame Folterung und Tötung junger Widerständler gegen des totalitäre Regime, den Peshmergas, den Freiheitskämpfern im Grenzgebiet zwischen Iran und Irak bis hin zum Festhalten an alten Traditionen wie der Zwangsheirat.

All das erzählen die beiden Regisseure in kurzen und manchmal verwirrenden Sequenzen. Da werden Personen kaum eingeführt, wechselt der Handlungsablauf ständig. Erst ab der Mitte des Filmes, nehmen sich die Autoren Zeit, das Leben ihrer Protagonisten ruhiger zu erzählen. Hier wird die ausweglose Situation des kurdischen Volkes am ehesten deutlich. Zerrissene, verarmte und in Traditionen erstarrte Familien deren Söhne und Väter, einsam für eine Freiheit kämpfen, die noch lange nicht in Sicht ist. 4. Iran: Grenzen umgehen – Die iranische Gesellschaft zeigt vielfältige Facetten

Sechs iranische Filme waren dieses Jahr auf der Berlinale vertreten und wurden zum Abbild einer Gesellschaft, in der sich viele, trotz religiöser Engstirnigkeit, das Recht auf kleine Freiheiten erkämpfen. In „Offside“ erzählt der Regisseur Jafar Panahi eine Geschichte über Menschen, die ihre primären Rechte nicht wahrnehmen können. Es geht um Frauen im Iran, die wie alle Männer ein Fußballspiel der Nationalmannschaft in Teheran ansehen wollen. Das Stadion als Ort der Freiheit, an dem Männer fluchen und schreien können soviel sie wollen, ist dem Zutritt von Frauen untersagt. Und so lassen sich fünf junge Frauen einiges einfallen, um ihr nichtvorhandenes Recht dennoch wahrzunehmen. Panahi der bereits mit seinem Film „Der Kreis“, im Jahr 2000 den Goldenen Löwen in Venedig erhielt und das Schicksal von Frauen zeigte, die sich ihre Freiheit erkämpfen, zeigt hier auf komödiantische Weise erneut den Irrsinn der Frauenunterdrückung in der iranischen Gesellschaft. Mit viel Einfallsreichtum versuchen seine Figuren, diese engen Grenzen aufzuweichen und normal zu leben. Zu Recht erhielt er dafür den Großen Preis der Jury.

„It’s winter“ hat nichts von der Leichtigkeit des Panahi Films und lässt die weibliche Perspektive ganz außer Acht. Regisseur Rafi Pitts zeichnet hier, in einer kleinen iranischen Stadt, ein Gesellschaftsbild, indem die schlechte ökonomische Lage Familien auseinander zwingt, Väter ihre Familien und das Land verlassen, um im Ausland Geld zu verdienen. Doch die wenigsten kehren zurück. Es bleiben kaputte Familien zurück, die am Rande des Existenzminimums leben, auf Geld warten und an denen das Leben viel zu schnell vorbeifliegt.
In dem Film „Gradually“ von Maziar Miri flieht die Protagonistin Pari vor ihrem Mann und sucht nach jemandem, der ihre Depressionen heilt. Warum sie diese hat, lässt sich nur erahnen. Mahmoud begibt sich auf die Suche nach ihr. Für die Familie und die Nachbarn bedeutet Paris Verhalten nur Schande. Mahmoud hingegen will seine Frau wiederhaben. Keiner steht ihm so richtig zur Seite, alle tratschen nur und haben eigentlich keine Ahnung. Am Ende kehrt Pari zurück. Mahmoud muß sich entscheiden. Er darf sie töten, sich scheiden lassen oder sie verlassen. Doch Mahmoud bricht aus den gesellschaftlichen Zwängen aus und gibt beiden eine neue Chance. Ein starker Entschluss, der zeigt, dass in der religiös geprägten und reglementierten iranischen Gesellschaft durchaus der einzelne Wille zählen kann.

Der vierte und letzte Film ist eine unterhaltsame Parabel über die gehobene Mittelschicht Irans. In „Men at work“ von Mani Haghighi kehren vier Freunde von einem Skitrip zurück. An einer Raststätte finden sie einen merkwürdigen riesigen alten Stein, der sie stört. Von da an versuchen sie auf unterschiedliche Weise und äußerst amüsant, den Stein den Hang hinab zu stürzen. Die Geschichte nimmt ihren absurden Verlauf. Während ihrer Mühen brechen alte Wunden zwischen den Freunden auf. Sie sprechen über ihr Leben, das Altern, die Einsamkeit, Freundschaften und natürlich die Frauen. Am Ende stürzt der Fels allein in die Tiefe und die Städter fahren zurück, mit der Gewissheit nicht alles bestimmen zu können und dennoch Freunde zu haben, die einem das Leben ein wenig erträglich machen. (Diana Kluge)

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