Ein kleines bißchen Orgie: „Bakchen Orgienprobe” sehr frei nach Euripides (Michael Wehren & Tobias Prüwer)

„Bakchen Orgienprobe“
LOFFT.Leipzig
Regie: Achim Scherf
Weitere Aufführungstermine in Leipzig: 1./2. April; 11./12./13./14. Mai
Eintritt: 10 / 6 ?
www.orgienprobe.de


Spiel – Opfer – Trash. „Bakchen Orgienprobe“

„Fürwahr, ich glaub, ich seh sie, Vögeln gleich
Im Nest, in Liebe aneinander dicht geschmiegt.“
Euripides: Die Bakchen

Der dionysische Reigen erlebt ein Revival. Nach Inszenierungen in Frankfurt am Main, Basel und München sind die Bakchen des Euripides nun auch im beschaulichen Leipzig zu sehen. Regisseur Achim Scherf hat mit selbst erklärten „Berliner Tuntenstars“ einen eigenständigen Zugang zu Stück und Stoff gewählt. Seine Bakchen proben im LOFFT die Orgie.

Wir erinnern uns: Die 405 v. C. uraufgeführte Tragödie erzählt die Geschichte der Ankunft eines neuen Kultes im antiken Theben. Der Gott des Rausches Dionysos (grandios fehlbesetzt: Kaey Tering) und sein Gefolge, die Bakchen, treffen auf die Logik des Staates und dessen Stellvertreter König Pentheus (rüstig-hysterisch: Dietrich Kuhlbrodt). Der Konflikt zwischen Gott und Mensch führt zur lethalen Zerreißung des letzteren durch seine Mutter Agaue (souverän: Brigitte Kausch-Kuhlbrodt). Am Ende stehen Klage und Verbannung der königlichen Sippe.

Wie wir durchschnittlich gebildeten HumanistInnen wissen, wurden im antiken Theater alle Rollen von Männern gespielt. An diese Tradition schließt die aktuelle Inszenierung erst einmal an. Trashige Travestie trifft spielerisch auf den massiv zusammengestrichenen Text des Klassikers. Und das Publikum bleibt dabei nur teilweise außen vor. Zunächst auf sich allein gestellt, hat dieses Gelegenheit, sich mit Getränken zu versorgen und im Bühnen-/Zuschauerraum (gelungenes Interieur: Samuel Hof) gemütlich einzurichten. Der Charme der Lokalität liegt irgendwo zwischen Trinkhalle, Pornopool, 80er Jahre Disco, Kultstätte und seriösem Theater. Schließlich lösen pompöse Klänge leise Dschungelgeräusche ab, der Chor tritt ein. Blütenblätter um sich streuend – halb Ernst, halb Ulk – begrüßen die aufgetakelten AnhängerInnen des Dionysos das Publikum. Zum Großteil aus Tunten bestehend formieren sie sich und schweigen; zunächst. Auf eine kurze, gelungene Chorpartie folgt Interaktion. Immer wieder von kurzen Liedern und Dialogen unterbrochen, folgen nun in loser Reihenfolge die Befragung der Orakelpriesterin (ekstatisch schaukelnd: Inge Borg), Reinigungsrituale mit gutem „Moskovskaya“, mehr oder weniger rituelle Waschungen (Nacktbaden) von Pentheus und willigem Publikum, gemeinsamer Tanz und schließlich die Schlachtung.

Zwischen unterleibsfixiertem Humor, genialem Dilettantismus, schlechter Musik und (schrecklich!) queerem Karnevalgedöns gibt es viel peinlich-amüsantes und wenig klassisches Theater. Der Witz daran ist: Regisseur Scherf spielt mit seinen DarstellerInnen auf der Klaviatur der Theatersituation: Voyeurismus und Scham. Schon Euripides‘ Tragödie ist ein Stück Theater über Theater: Es geht um den Blick, das (Zu-)Sehen, die Lust am Zuschauen, Verwandlung und Verblendung. Das souveräne „Nein“ des Pentheus ist zunächst Verneinung der identitätsverrückenden Metamorphose. Wenn Dionysos ihn schließlich dazu bringt, in Frauenkleidern den Bakchen hinterher zu spionieren, zeigt sich die verdrängte Lust an der Verwandlung als Abgrund der Macht.

Streckenweise gelingt es der Orgienprobe, die heimliche Mittäterschaft des Zuschauers fühlbar zu machen. Dessen libidinöse Distanz zum Geschehen wird im Rahmen der Aufführung immer wieder umgekehrt. Daraus ergibt sich allerdings tendenziell eher eine Viktimisierung des Zuschauers, als eine performative Überschreitung und Öffnung der theatralen Ordnung. Meistens ist man doch froh, dass es einen selbst nicht erwischt hat. Die Logik der Stellvertretung siegt auch hier: Opfer sind immer die anderen. Die experimentelle Reinszenierung der Bakchen gefällt durchaus – nicht mehr, nicht weniger.

(Michael Wehren & Tobias Prüwer)

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