„Geh und Lebe”, der neue Film von Radu Mihaileanu (Josephine Heide)

Geh und Lebe
(Va, vis et deviens)
Frankreich/Israel 2004, 144 Min
Regie: Radu Mihaileanu
Drehbuch: Alain-Michel Blanc, Radu Mihaileanu
Darsteller: Yaël Abecassis, Roschdy Zem, Moshe Agazai, Mosche Abebe, Sirak M. Sabahat, Roni Hadar, Yitzhak Edgar, Rami Danon, Meskie Shibru Sivan

Kinostart: 6. April 2006
Radu Mihaileanu präsentiert
eine fesselnde Lebensgeschichte

„Geh, lebe und werde! Vorher kommst du nicht zurück!“ – mit diesen Worten schickt eine verzweifelte Mutter ihren erst 9-jährigen Sohn auf eine Reise in die Ungewissheit. Sie will, dass er lebt – und natürlich versteht er nicht, will sich nicht trennen, blickt sich immer wieder um – jedoch vergebens. Mit Tränen in den Augen macht er sich an der Hand einer fremden Frau auf seinen Weg.

Es ist die Lebensgeschichte eines jungen Äthiopiers, der seine Identität gegen ein Leben in vermeintlicher Freiheit eintauscht. Vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1985, die den meisten Kinobesuchern wohl unbekannt sein werden, erzählt Regisseur Radu Mihaileanu („Zug des Lebens“) eine Geschichte, die unter die Haut geht. Tausende gläubige Äthiopier werden in ihrem Heimatland von kommunistischen Militärs verfolgt und fliehen zu Fuß. Sie machen sich buchstäblich barfuß auf den Weg nach Israel, müssen dabei den verfeindeten Sudan durchqueren, viele kommen um – verhungern, verdursten, verenden in Flüchtlingslagern. Per Luftbrücke können 8000 Flüchtlinge heimlich gerettet werden, doch die „Operation Moses“ ist nur Juden vorbehalten, Christen, Moslems – sie alle müssen zurückbleiben. Unter ihnen ein kleiner Junge, der von nun an Schlomo (Salomon) heißen wird, seine christliche Identität verbergend – von jetzt an ist er Jude.

Angekommen im vermeintlichen Paradies wird Schlomo nun unverhohlen mit den Gewohnheiten, Eigenheiten und Selbstverständlichkeiten der neuen Heimat konfrontiert. Bis ins kleinste Detail und sehr einfühlsam wird hier gezeigt, wie er die erste Dusche, lästige Socken an den Füßen oder etwa das Essen mit Messer und Gabel wahrnimmt, wie befremdlich das alles für ihn ist. Den Gedanken, seine Heimat, sein Zuhause, seine Mutter nie wieder sehen zu können, will und kann er nicht annehmen. Mit Haut und Haaren sträubt er sich dagegen, sein neues Leben in der Fremde zuzulassen. Beim Zuschauer stößt er mit diesem Verhalten auf Mitgefühl, zu nah geht einem dies Schicksal. Und so ist der Kinobesucher auch hin- und hergerissen zwischen Verständnis und Unverständnis für die Entscheidung der leiblichen Mutter Schlomos – in Anbetracht der Ereignisse, die sich da auf der Kinoleinwand abspielen.

Die Jahre vergehen und Schlomo wächst zusehends in die neue Welt hinein, lernt, das Leben zu leben – mit allen seinen Schatten- und Sonnenseiten. Oft Widerwillens, doch zunehmend nahezu perfekt, spielt er seine Rolle als jüdische Waise. Seine Adoptivfamilie bemüht sich von Anfang an sehr um ihn und sein Vertrauen. Schließlich lässt er sich auf sie ein, zu seiner Adoptivmutter (Yaël Abecassis) baut er gar ein inniges Verhältnis auf. Sie ist es auch, die ihn vor aller Augen in Schutz nimmt, als in Israel die Meinung laut wird, Schwarze können keine echten Juden sein und seien ohnehin illegal und unberechtigt in ihrem Land. Dennoch behält Schlomo sein Geheimnis für sich. Dem Druck, der Angst, die sich dabei anstauen, kann er nur standhalten, indem er sich an einen Rabbi wendet, der ihm dabei hilft, Kontakt zu seiner leiblichen Mutter aufzunehmen, der er so Briefe zukommen lassen kann, um die Last seines Geheimnisses ein wenig zu erleichtern.

Eindrucksvoll und bildgewaltig inszeniert Mihaileanu die Reise und das Leben dieses Jungen und fesselt sein Publikum dementsprechend an die Kinosessel. Da bleibt einem schon mal das Popcorn im Halse stecken angesichts der Ereignisse, die von der Kinoleinwand niederprasseln. Ein Wehmutstropfen bereitet da umso mehr die Musik, die hier hätte weniger kitschig ausfallen können – ein bisschen mehr Zutrauen in die Sensibilität des Zuschauers wäre nicht fehl am Platze gewesen. Emotionen müssen nicht (immer) auf dem Silbertablett serviert werden, um beim Zuschauer anzukommen. Die schonungslos-kompromisslose Kameraführung hätte vollkommen ausgereicht, um die Dramatik des Geschehens darzustellen. Man hat nahezu den Eindruck, selbst dabei zu sein, als ein Teil dieser Geschichte. Das Gefühl, den Protagonisten direkt gegenüberzustehen, die Stimmung förmlich am eigenen Leib spüren zu können, gibt diesem Film sehr starke Momente.

Leider wirkt Schlomos Lebensgeschichte zu vollgepackt mit Ereignissen, dass die Darstellung gerade der Nebencharaktere etwas dürftig und oberflächlich ausfällt. Man hat das Gefühl, Mihaileanu holt nicht alles aus seinen Schauspielern heraus, was diese zu bieten hätten – kein Wunder bei der enormen Zeitspanne, die hier mit Inhalt gefüllt werden soll. Da ist Tiefgang selten zu realisieren. Vielmehr holpert die Handlung immer wieder – überschlägt sich fast. Lediglich die schauspielerische Leistung Yaël Abecassis‘ ist herausragend und verdient besondere Beachtung.

Neben Schlomos alltäglichen Erfahrungen wird das Publikum mit Geschehnissen konfrontiert, die doch zumeist recht harter Tobak sind und Anstoß geben, Bilder brennen sich ein, die auch nach dem Kinobesuch lebhaft bleiben. Im großen und ganzen ist der Versuch also einigermaßen geglückt, ein Einzelschicksal zu durchleuchten und dabei nicht die Komplexität und vielschichtigen Zusammenhänge außen vor zu lassen, in die diese Lebensgeschichte eingebettet ist – kein leichtes Vorhaben.

Am Ende hält dieser Film sogar eine kleine Überraschung bereit, mit Tränen in den Augen, berührt von einem Schicksal, verlässt der Kinobesucher dann den Saal, spürt Wut im Bauch angesichts der Grausamkeit, zu der Menschen fähig sein können. Womöglich regt sich zusätzlich sogar das schlechte Gewissen und Sprachlosigkeit macht sich breit – oder ist es Bestürzung, Erstaunen, Erschütterung?! Eines zumindest steht fest: „Geh und Lebe“ ist ein Kinoereignis das sich in vielerlei Hinsicht lohnt.(Josephine Heide)

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