Ausnahmezustände: Dieter Gränichers beeindruckende Dokumentation „Seelenschatten” (Christian Fröhlich)

„Seelenschatten“
Regie: Dieter Gränicher
Dokumentarfilm, 89 Min.

Deutscher Starttermin: 27.04.2006

Filme wollen meist künstlerisch geformter Ausdruck des Lebens und seiner Inhalte sein. Sie werfen uns – wie jede Kunstform – auf uns selbst und auf die Welt, in der wir leben, zurück. Dennoch werden sie meist nicht an dem gemessen, was sie zeigen, sondern an dem, wie sie es zeigen, wie sie die filmischen Ausdrucksmittel der Handlungsinszenierung und der Bildkomposition zur Formung eines Ganzen verwenden, das für sich stehen und interpretiert werden kann.

Ein Dokumentarfilm hat diese Freiheiten nicht. Er gewinnt erst durch die Relation zu dem, was er zeigen will, an Relevanz. Seine Kunst ist es, der Realität so nah wie möglich zu kommen und dennoch künstlerische Integrität zu wahren. Dieter Gränichers Dokumentation „Seelenschatten“ kommt den Schattenseiten der menschlichen Seele, der Depression unglaublich nahe und findet sein künstlerisches Ausdrucksmittel durch die Konzentration auf das Leben selbst.

Über eineinhalb Jahre hat er sich Zeit genommen, mit vier Menschen, die unter Depression leiden, zu sprechen, sie zu beobachten, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das Leben von Charles, Hél?ne, einer 20jährigen Namenslosen und Bronislaw ist in der Unfähigkeit verhaftet, den Selbstverständlichkeiten der eigenen Wirklichkeit zu begegnen, und verliert sich immer wieder in auswegloser Trauer. Dennoch wohnt ihnen auch ebenso eine enorme Kraft inne, mit der sie versuchen, ihrer Depression zu entkommen. Ob in der Klinik oder in den eigenen vier Wänden, immerwährend ringen sie mit dem inneren schwarzen Nichts, mit der Lähmung allen Lebensantriebes.

Dieter Gränicher schaut und hört genau hin. Er schweigt mit, wenn seine Gegenüber zusammengesunken am Tisch sitzen und sich an einer Zigarette festhalten, den Blick ins Leere gerichtet. Dabei bleibt der Filmemacher immer hinter der Kamera, kommentiert nichts, fragt nur selten. Daraus spricht die Einsicht, dass man schwierige Situationen eben nicht nur über das Wissen und die Sprache, sondern über das Schauen, das Hinschauen und im Auge behalten auf eine Weise erfassen kann, die so manches zeigen kann, was man sonst nicht sehen und dann auch nicht erleben würde. Hansueli Schenkels Kamera geht ebenfalls den Pakt mit den Verstummenden ein. Das Auge der Kamera nähert sich an das Schweigen an durch das Hinschauen und Hinzeigen auf scheinbar bedeutungslose Dinge in der unmittelbaren Umgebung der Kranken, folgt den Spuren des für diese oft so unbedeutenden Lebens und sucht nach den Botschaften zwischen den wenigen Worten und den verlorenen Blicken. Und findet das Ringen aller, das auszuhalten, was kaum auszuhalten ist.

Eine der großartigen Entscheidungen dieser Dokumentation ist es, nicht nach Ursachen zu forschen. Nichts wird erklärt, jegliche psychologische, therapeutische Fachsimpelei bleibt aus, keine Fachleute kommen zu Wort; Ursachen, Behandlungsformen und Heilungschancen der Depression sind kein Thema. Somit bleiben die beobachteten Kranken ohne institutionelles Urteil und werden nicht zu zerstückelten Objekten externer Interpretation. Die vier reflektieren sich selber und berichten von ihren Versuchen, sich einen Weg aus der Ausweglosigkeit zu bahnen. Dass ihre Worte und die Teilnahme an den Interviews selbst schon schwere Schritte auf diesem Weg sind, macht diesen Film unglaublich bewegend und einfühlend.

„Seelenschatten“ wird dieses Jahr im Rahmen des bundesweiten „Ausnahme-Zustand“-Festivals (www.ausnahmezustand-filmfest.de) in Deutschland zusehen sein, dass der Leipziger Verein „Irrsinnig Menschlich e.V.“ und die Berliner „EYZ Media“ in Zusammenarbeit mit jeweiligen örtlichen Verbänden und Einrichtungen organisieren, um das Thema „seelische Erkrankungen“ stärker in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken, zu informieren, aufzuklären und um mehr Akzeptanz zu werben, gerade vor dem Hintergrund hoher Suizid-Raten aufgrund psychischer Schädigungen. Es werden außerdem Filme aus den USA, Norwegen, Deutschland, Italien und Frankreich zu sehen sein.

Den Preis, den „Seelenschatten“ für seine intensive Nähe und sein intimes Einfühlen in die Seelenzustände seiner Protagonisten zahlt, ist die fast vollständige Ausblendung ihrer Berührungspunkte mit der Außenwelt. Der Zuschauer wird Zeuge ihrer Kämpfe mit sich selbst, aber selten ihrer Reibungsflächen mit anderen Menschen in der Alltagswelt. Doch Dieter Gränicher spürt auch dem nach und kann andeutend zeigen, wie wichtig ein offenes, vorurteilfreies soziales Umfeld ist, um einen Weg aus der kranken Einsamkeit und der Traurigkeit zu weisen. Doch viele Fragen bleiben offen und man will länger bei den Vieren verweilen, um ihre Dilemmata tiefer verstehen zu können. Denn es wird eine emotionale Anteilnahme vermittelt, die über einen normalen Grad an Sensibilität für Depressionskranke hinausgeht und vorurteilfreies Mitgefühl in die Wahrnehmung des Zuschauers zu pflanzen vermag – und Bewunderung über die Kunst, normal zu leben.(Christian Fröhlich)

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