„Nevskij Prospekt” der Gruppe Potudan\‘ nach Gogol (Michael Wehren)

„Nevskij Prospekt“
Gruppe Potudan‘
Im Lindenfels Westflügel Leipzig


Gogols Gehilfen – „Nevskij Prospekt“ im Westflügel der Schaubühne

„Es gibt nichts Schöneres als den Newski Prospekt, jedenfalls nicht in Petersburg; für Petersburg ist er alles.“ Nikolai Gogol

Am Ende eines wundervollen Abends ist es erlaubt zu paraphrasieren: Es gibt nichts Schöneres als den Westflügel der Schaubühne Lindenfels – und den „Nevskij Prospekt“ der Gruppe Potudan‘, jedenfalls nicht in Leipzig, vielleicht auch sonst nicht. Das Puppentheater der russischen Truppe bietet geradezu verschwenderisch all das, was sich ansonsten auf der Bühne meist durch Abwesenheit kundtut: Poesie, Witz, Intensität und meinetwegen auch Magie. Dass all diese Wörter ein wenig abgenutzt erscheinen, darf nicht daran hindern, sie hier zu verwenden, denn an diesem Abend erhalten sie erneut Bedeutung und, auch dieses Wort sei gestattet, Wahrheit.

Schon Nikolai Gogols monologisierender Text führt den Leser in ein Theater der Körperteile, des Vorüberziehenden, der Täuschungen und der Sehnsucht. Seine Atmosphäre schlägt um von einer Freude am Vorüberziehenden zu einem gewissen Verlorenheitsgefühl, einer Oberflächlichkeit, welche im andauernden Wandel sich schließlich als Leere zeigt. Die Inszenierung, eingeladen als Teil des Priwjet!-Theaterfestivals, beginnt mit dieser Leere als einem Trümmerfeld. Über einer verwüsteten Landschaft kreist mit kleinen, verhaltenen Flügelschlägen ein Engel. Er schiebt die kleinen Vorhänge der Bühne auf Seite und lenkt den Blick der Zuschauer auf den zentralen Ort der Handlung, eben jenen bereits erwähnten Petersburger Prospekt. Hier spielt sich das Leben als ein notwendig falsches ab und die Zuschauer folgen den Geschichten der Herren Pirogow und Piskarjow. Der eine ist auf ein Abenteuer, der andere auf die wahre Liebe aus. Der eine wird verdroschen, der andere begeht schließlich Selbstmord. Gespielt ist das alles filigran und zart, aber zugleich auch ausgreifend, albern, brutal: Im kleinen Welttheater der Gruppe Potudan‘ gehen Teufel und Engel ein und aus. Seine Atmosphäre ist dämonisch zweideutig. Vielleicht muss man die kleinen Marionetten und Handpuppen, denen die Bühne gehört, als Gehilfen im Kafkaschen Sinne verstehen lernen, sie als wuselnde, halbmenschliche Übersetzer des Vergessenen sehen, um ihrer Grenznatur gerecht zu werden.

„Er lügt, er trügt zu jeder Stunde, dieser Newski Prospekt, am ärgsten aber dann, wenn sich die Nacht gleich einer undurchdringlichen Wolke auf ihn niedersenkt und die ockergelben und weißen Fronten der Häuser herausschält, wenn die ganze Stadt zu lärmen und zu glänzen beginnt.“ Nikolai Gogol

Der Westflügel der Schaubühne Lindenfels erscheint als richtiger Ort für ein Theater, welches sich im Provisorischen einzurichten versucht, und mit Verlorenem – man erinnere sich an Kleists Essay über das Marionettentheater – umzugehen in der Lage ist, ohne ihm zu erliegen.
Zunächst bietet er während des so genannten Sommerspielplans sechs Monate lang regelmäßig, so weit dies absehbar ist, hervorragende Produktionen: Allen, die Theater lieben, und auch allen, welche es immer liebten, aber nicht mehr hingehen, sei ein Besuch dieses außergewöhnlichen Ortes und Festivals ausdrücklich ans Herz gelegt.

(Michael Wehren)

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