Auf der Suche nach Form

Der Künstler Michael Grass versucht den schmalen Grat zwischen akademischer Kunstproduktion und naiver Heimwerkelei gangbar zu machen

Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich. Es ist das Mystische.
Ludwig Wittgenstein


Am 7. August 1916 schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein in sein Tagebuch: „Das Ich ist kein Gegenstand.“ Gegenstände werden vermessen und berechnet, verwertet und definiert. Ein Schicksal, das heute auch Kunstwerke teilen. Interpretatorisch aufgeladen werden sie in Bedeutung ertränkt. Letztlich sind sie tot. Dabei haben gerade Kunstwerke eine geheimnisvolle Unerschließbarkeit, ein Eigenleben, das sich eindeutigen Zuschreibungen und Maßstäben entzieht.

In einer Epoche, in welcher Kunstwerke fließbandartig die Fabrikationshallen und Hochschulen verlassen, versucht Michael Grass den schmalen Grat zwischen akademischer Kunstproduktion und naiver Heimwerkelei gangbar zu machen. Dabei wirft er für sich fortwährend die Frage nach Selbst- und Künstlertum, dem künstlerischen Selbstverständnis auf. Seit jeher ist Grass auf der Suche nach der Unmittelbarkeit ästhetischer Empfindung und versucht, sich festschreibenden Deutungsversuchen von Kunst zu entziehen. Schließlich ist diese gerade durch ihre Nichterklärbarkeit charakterisiert und muss erfahren werden. Dies beginnt für Grass schon während seiner Arbeit. Er empfindet das schöpferische Gestalten als inneren Prozess, den er durchlebt, bis das Bild ins Werk gesetzt ist oder sich vielmehr selbst ins Werk setzt. Mit Robert Rauschenberg sagt Grass: „Wenn ich eine Idee habe, wie ein Bild aussehen kann, gehe ich schnell spazieren, um diese Idee zu vergessen.“ Anstatt im kognitiv-kalkulierenden Entwurf das bildnerische Resultat bereits vorwegzunehmen, begibt er sich auf die Suche nach Formen, folgt der Intuition, bis sie sich im Niemandsland des Materials selbst manifestieren. Indem jede Linie die anderen ins Verhältnis setzt, gelangt Grass schließlich zu ästhetischen Arrangements, die sich für ihn „richtig“ anfühlen. So ist jedes Werk auf’s Neue ein Versuch, sich der persönlichen Vorstellung von ästhetischer Angemessenheit anzunähern.

Grass‘ Bilder sind alles andere als das Ergebnis einer geradlinigen Kunstausbildung. Derzeit Student der Kunstgeschichte und Philosophie in Leipzig, ist er seit 1991 Mitglied der Erfurter Ateliergemeinschaft ZifMauG e.V., deren Nähe zu Erfurter und Weimarer Künstlern wie Gerhard Altenbourg, Ernst Zimmermann und Alfred T. Mörstedt als Wiege seines eigenen künstlerischen Ausdrucks zu erkennen ist. Lesbare Einflüsse sind aber auch die Graffiti-Art und die Photographik. Gerade diese diversen Komponenten verleihen Grass‘ Bildern eine ästhetische Eigenheit. Die Suche nach Form hat ihn im Laufe seines künstlerischen Arbeitens zu immer mehr Zurückhaltung geführt. Weniger auf Linien fixiert, stehen nun mehr Flächen in seinem Interesse und eine Entwicklung zu zunehmender Abstraktheit ist augenscheinlich. Wohin das mal führen mag, weiß er selbst nicht: „Vielleicht muss es im schwarzen Quadrat enden.“ Dieser Minimalismus zeigt sich auch in der Farbwahl, in welcher die gedämpften Töne dominieren. Diese Bewegung zu mehr Abstraktheit kann man an den ausgestellten Werken nachvollziehen. So stellen die älteren Arbeiten der Kollagen ein Gewimmel von Formen und Strukturen dar und die Plastizität steht im Zentrum. Demgegenüber liegt der Fokus bei den neueren Holzschnitten deutlich auf einzelnen Formen wie in „Ahnung der Träume“, in dem drei Formen gegeneinander gesetzt, miteinander ins Verhältnis gesetzt sind. Allen Werken eigen ist eine gewisse Hineingezogenheit, die ein Verlieren im Bild bewirkt. Besonders deutlich gestaltet sich das am Beispiel von „Konstruktion ohne Vermögen“, das wie eine Ausschnittsvergrößerung aus „Einsichten in Tieferliegendes“ wirkt.

Gegenüber den zeitgenössischen Tendenzen eines überbordenden Akademismus und Kommerzes ist Michael Grass bemüht, sich einen eigenen, perspektivischen Zugang zur Kunst offen zu halten. Seine ästhetischen Experimente treibt immer wieder die Frage um, warum man etwas schön findet, aber immer mit dem Wissen, dass genau dieses mit unserer Begriffslogik nicht zu erfassen ist. Die bewusst uneindeutig gewählten Titel geben der Ambivalenz möglicher Interpretationen Raum. Letzten Endes ist auch die Form kein Gegenstand. So bieten Grass‘ Werke Einblick in das Wesen eines Kunstschaffenden, der sich weigert, ein festgeschriebener Charakter zu sein. In seinem Sinne entziehen sie sich pauschalen Deutungsmustern und laden ein zum zweiten Hinsehen. Sie vereinigen spielerisch den Reichtum an Facetten und Ausdrucksmöglichkeiten der bildenden Kunst, der wohl immer etwas Mythisches, weil Unaussprechliches, anhaften wird.

Ausstellung von Michael Grass: Collagen, Holzschnitte, Graphiken

12. Mai bis 12. Juni 2006, „Le Gaullois“ in Erfurt

Eintritt frei


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