„Grüner Hügel” Fockeberg

Die Wagner-Festtage in Leipzig: In vier Veranstaltungen erlebten die Besucher ein facettenreiches, spannendes und kontroverses Programm.

Wie sich dem Musikgenie Wagner annähern, der weltweit gefeiert und vereinnahmt ist, in seiner Geburtsstadt Leipzig, wo sich das Grab seiner Mutter und seiner Schwester befindet, aber bisher neben Bach und Mendelssohn, neben Gewandhaustradition und Thomanerkult keine Rolle spielte oder spielen durfte? Die Richard Wagner Gesellschaft Leipzig 2013 e. V. denkt da in gewaltigen ja olympischen Dimensionen. Den 200. Geburtstag des Komponisten 2013 fest im Visier sind Initiativen entstanden, die Leipzig auf unkonventionelle und schmunzelnde Weise dem „Sohn der Stadt“ näher bringen und auf den großen Geburtstag vorbereiten, heuer die ersten Wagner Feststage in der Stadt, die sich doch eigentlich gerade auf das in sechs Tagen beginnende Bachfest und natürlich auf die Fifafußballweltmeisterschaft vorbereitet.

13.00 Uhr
wagner:brühe

Welche Faszination muss Wagner immer noch haben, wenn man Paul Fröhlich – Initiator und natürlich Moderator unzähliger Seifenkistenrennen auf (seinem) Fockeberg gewinnen konnte, den Fockeberg heute in „Grüner Hügel Leipzig“ umzutaufen. Der einst aus Trümmerschutt entstandene Hügel hat neben seiner topografischen Bedeutung im Süden Leipzigs längst einen festen Platz im Stadtleben, jetzt also noch zusätzlich mit dem Etikett des großen Bayreuths behaftet, vielleicht nicht zufällig an Wagners Schwierigkeiten des Unternehmens Festspielhaus erinnernd, welches in „Trümmern“ lag, wenn die (finanzielle) Unterstützung des jungen Königs aus München mal wieder ausblieb.

Doch zuvor sind die gut einhundert Gäste eingeladen, eine eigens vom Küchenchef des Parkhotels Leipzig kreierte Rinderbrühe zu verspeisen. Paul Fröhlich rezitiert einen Originalbericht aus dem Jahr 1862 von Wendelin Weißheimer, nachdem Wagner im Anschluss an eine Lohengrin Aufführung in Frankfurt am Main einen völlig verblüfften Kellner mit dem Imperativ „Brühe (….), aber bringen Sie keine Tasse, sondern einen ganzen Suppentopf voll!“ angeherrscht haben soll. Mit den Worten „Nach einem ungewöhnlichen geistigen Genuß ist auch ein übermäßig materieller am Platz“ leerte er dann die ganze Terrine in einem Zug. Das sind freilich die Wagner Anekdoten! Das Leben dieses Mannes war – wie seine Tondichtungen – ein Gesamtkunstwerk. Selbst im alltäglichsten Alltag verfocht er seinen genialischen Anspruch mit nie nachlassender Energie.

16.30 Uhr
wagner:wort

Am 22. 5. 1813 wurde Richard Wagner in Leipzig im „Haus zum Roten und Weißen Löwen“ geboren. Das Haus am Brühl ist leider verloren gegangen. Kein Grund, nicht trotzdem den authentischen Ort zu suchen! Philipp J. Neumann hat das heute hier residierende Karstadt-Warenhaus überzeugen können, einmal Sonntags seine Pforten zu öffnen. Mit der Rolltreppe gelangt man ins erste Obergeschoss, zwischen Damenober- und Unterwäsche eine provisorische Bühne. Stefan Königs Jazztrio illustriert die von Sylvester Groth vorgetragenen autobiografischen Notizen Wagners. Groth hat anfangs Mühe, sich auf Wagners Texte á la „Ich war schon immer ein Genie“ einzulassen. Wer kann auch heute schon wissen, wie viel Ernst in Äußerungen wie „(..). Diese erste Aufführung eines von mir komponierten Stückes hinterließ auf mich einen großen Eindruck.(..)“ wirklich steckt oder ob daraus nur die Schnoddrigkeit eines auf Nachruhm versessenen Künstlers spricht. Die frischen groovigen Kompositionen sind oft nah am Text, Wagners jammerreiche Seereise von Riga nach London wird von modulierenden Basstönen trefflich übersetzt. Den Schluss bildet Wagners Rückkehr nach Deutschland von Paris. In gespannter Erwartung der Aufführung seines „Fliegenden Holländers“ in Berlin und von „Rienzi“ in Dresden erblickt er auf der Reise zum ersten den Rhein. Tiefe aufwühlende Gefühle, Wolfram Dix an den Drums versinkt genussvoll in perkussiven Aktionen.

16.30 Uhr
wagner:vorspiel

Mendelssohn-Orchester
Musikalische Leitung: David Timm

Franziska Endres (Schauspiel)
Steffi Sembdner (Tanz)
Christine Maria Rembeck (Gesang)

Inszenierung: Philipp J. Neumann

Die große Montagehalle Karl-Heine-Straße 85 hat nach dem Ende des Industriezeitalters in Plagwitz schon manche Kulturveranstaltung erlebt. Mit ihren Dimensionen hat sie das Zeug zum künftigen Festspielhaus der Wagner-Gesellschaft! Augenblicklich reizt der Charme der morbiden Industriearchitektur, akustisch sind die Bedingungen für ein großes Sinfonieorchester schwierig bis unmöglich, faszinierend ist, dass man es trotzdem macht.

Direkt über den Musikern befindet sich eine temporäre Empore aus Baugerüsten, über Stege ist die Empore zu einem Rundlauf um die Zuschauer verbunden. Zu Vorspielen aus „Der Fliegende Holländer“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“, Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger zu Nürnberg“ verspricht Philipp J. Neumann ein „künstlerisches Dreigestirn aus Gesang, Schauspiel, und Tanz“. Was hölzern klingt entpuppt sich schnell als die stilistisch völlig offene Beschäftigung mit Wagners Ohrwürmern. Lustvoll lassen sich Franziska Enders
(Schauspiel), Steffi Sembdner (Tanz) und Christine Maria Rembeck (Gesang) auf Neumanns Spielideen ein: eine mitfühlende Solistin vor großem Orchester, die nie zum Einsatz kommt, die zurückgesetzte Sängerin, die nun die huldvollen Wortvorträge mit ihrer Stimme (ihrer Waffe) zu stören sucht. Die Choreografie lebt von Geschwindigkeit: tanzend, redend und singend rasen die drei Damen ums Publikum herum, neben dem Publikum wird auch ein Kameramann gezwungen sich ständig zu drehen, die Position zu wechseln. Der dabei entstehende Kabelsalat – ein schönes Bild der lebendigen Aktionen im Raum. Höhepunkt am Ende in den Meistersingern: im um-die-Wette-Aufblasen versucht man sich vorerst an Luftballons, in sportlich geladener Atmosphäre bleiben Handgreiflichkeiten nicht aus, bis man sich in immer größeren Blasobjekten zu überbieten versucht: riesige Coca-Cola- Flaschen, quietschbunte Strandaufblaslandschaften werden jetzt mit professionellen Geräten zum Wachsen gebracht. Immer höher, schneller, weiter! Mit den Schlussakkorden entblättert sich schließlich hinter der Bühne eine riesige Hüpfburg.

David Timm leistet trotz (oder gerade wegen?) der akustisch widrigen Umstände mit seinem Orchester Vorzügliches. Nach der Tannhäuserouvertüre, dem zweiten Stück gibt es regelmäßig kräftigen Szenenapplaus für die Musiker. Neumanns Konzept musikalischen Hochgenus mit improvisatorischer Freude und unorthodoxen Spiel zu kombinieren geht trefflich auf. Abseits von elfenbeinerner Werktreue, die neue Zuhörer eher abschreckt, ist ihm ein Abend gelungen, der Lust macht auf mehr Wagner (in Leipzig), der vor allem jungen Menschen Lust macht, sich an den auf einen unerreichbaren Sockel stehenden Musiker, Dichter und Menschen Wagner heranzuwagen.

wagner-festtage-leipzig

21. – 22. Mai 2006

Sonntag, 21. Mai 2006

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