Du bist Leipzig –„Helden 06 – Ein Theater-Sport-Spektakel” (Michael Wehren)

„Helden 06 – Ein Theater-Sport-Spektakel“
Schauspiel Leipzig
Nächste Termine: Fr. 16. Juni, Sa. 17. Juni

Viel Lärm um Sport – Schauspiel: „Helden 06“

„Unsere Hoffnung gründet sich auf das Sportpublikum.“ – Bertolt Brecht

I. Bevor der Regen kam

Kurz nach 17 Uhr: Draußen dröhnt Musik der Band „Opus“, es gibt Bierzelte, Trommler, Jongleure. Das ist nett nervig. Eine freundliche Hostesse erklärt dem Autor das so genannte „Helden-Punkt“-System: Wie stellt er sich sein Abendprogramm zusammen, welche Inszenierungen stehen zur Wahl? Der Himmel ist nicht unbedingt blau, eher dunkel – drinnen, im Eingangsbereich des Schauspielhauses gibt es Champagner und einen LVZ-Stand. Das Garderoben-Foyer ist mit Bühne, Catering und Sportspielen wirklich herausgeputzt. Der Autor fragt einen jungen, massiv-muskulösen Mann im gelben „Helden 06“-Shirt wie viel Uhr es denn sei. Der junge, massiv-muskulöse Mann im gelben „Helden 06“-Shirt schaut auf sein Handy, er sagt: „Siebzehn Uhr Dreißig.“ Ein Blick auf das Programmheft informiert: Um 18 Uhr ist die Premiere des „Sportstücks“. Auf dem Weg zum Zuschauerraum kommt der Autor an Sportmaschinen und Fußballphotographien vorbei. Kaum jemand schaut sie an. Dafür stauen sich gespannt wirkende Zuschauer vor den Eingängen zum Parkett. Dann werden die Türen geöffnet.


II. 1. Spielzeit: Überleben kleingeschrieben, Verausgabung vakant – „Ein Sportstück“ (von Elfriede Jelinek, Inszenierung: Volker Lösch)

An der Bühnenkante steht eine Gruppe Bürger in typisierten Posen, mit typisierten Phrasen; Protokollen der Hoffnung, des Wunschdenkens und der Selbsttäuschung. – Volker Löschs Inszenierung des „Sportstücks“ von Elfriede Jelinek versucht gleich zu Beginn das Ruder herumzureißen, aus der Sprachkörperzerstückelungsliteratur der Autorin auf den vermeintlich sichereren Boden der (Lokal-)Satire und des lokalen Kontexts zu kommen. Dieser wirkt zuerst, als Auftakt, peinlich-anrührend. An die Bedeutung der Weltmeisterschaft und ihre freundlich-naiven Werbesprüche glaubt tatsächlich mancher.

Wenn sich der eiserne Vorhang dann hebt, endet erst einmal die Sprache des Alltags. Der Bühnenkasten wirkt wie eine Sauna. In diesem Ambiente sind die Chöre positioniert, schwitzen, arbeiten und skandieren Jelineks hochartifiziellen Text. Als Meuten kämpfen sie um ihre Körper, ihren Zusammenhalt, ihre Beute. Abstoßung, Anziehung und Vereinigung der Meuten bilden die szenische Basis des Abends. Dann sind da noch Szenen zwischen Mutter und Sohn, und diejenigen in welchen ein singender WM-Löwe in Songwriter-Manier das Publikum amüsiert. Schließlich gibt es ein dribbelndes Fußball-Kaiser-Double und Funktionärs-Gelaber, Kabarett und Satire. Das Publikum goutiert es. Leider gehören diese Lacher in die Sparte Provinzposse.

Die Chöre sind sauber gearbeitet, variabel gestaltet, beweglich und es hat zweideutige Kraft, wenn die Haut der Mitglieder des Männerchors sich langsam unter den Anstrengungen des Abends rot färbt – Faszinationskraft, wie eben der Sport, um den es ja gehen soll. Doch dann bricht die Szene auch schon wieder ab, schließlich muss man es in zwei Stunden um den Parcours schaffen. Obwohl man frisches Bildertheater zwischen Training, Pop und Endspielrunde sieht, fehlt etwas. Da wird viel von Gewalt und Organisation, Überleben und Meutenwut erzählt, da wird Verausgabung und Gewalt gezeigt, erfahrbar oder beim Zuschauer selbst bemerkbar werden sie nicht. Vieles wirkt angerissen, konventionell. Umso ärgerlicher, wenn die Chöre nicht die notwendige Kraft gegen das Publikum aufbringen, sich nur dank szenischer Verabredung behaupten können. Ihr Einsatz wirkt manches Mal, leider vor allem im Frauenchor, wie eine Übung gemeinsamen Sprechens. Die Message, und hier handelt es sich um Message-Theater, hat man schnell internalisiert: Sport ist nicht gerade gleichbedeutend mit Aufklärung und kritischer Öffentlichkeit. So weit, so banal. Jedoch: Wo ist der szenische Funken Mehrwert?

So zieht der Sportstückkoloss unbemerkt vorbei. Kurz ist die Faszination der Gewalt spürbar, da die Opferszene, die vereinigte Meute prügelt auf einen Dummy ein, und auch die große Trainingsszene wirklich gelungen sind. Aber dann lassen die Fußball-Lieder wieder kalt, wirken fremd und bestätigen eher in dem Gefühl, Gott sei Dank nicht dazu zu gehören: zu den WM-Fans, den Fussball-Hooligans, den Anabolika-Amokläufern, den „Die Welt zu Gast bei Freunden“-Deppen und so weiter. Aber: Das ist ein bisschen wenig. Und: Das ist zu einfach. Denn ohne Verführung der ZuschauerInnen bleibt die Inszenierung über weite Strecken der Schaubühne als moralische Anstalt verpflichtet. Schließlich rächt sich dieses Konzept: Am Ende klatscht der Applaus des Publikums über den SchauspielerInnen zusammen. Scheinbar haben sie ein gutes Spiel, gute Leistung gezeigt. Leider kommt das kaum jemandem komisch vor. Es bleibt: Gute, politisch korrekte Laune, ein lokal gesehen politisch-ästhetisch wichtiger Schritt in einem Theater, das sich selbst und Jelineks theatralen Subtext vergessen hat.


III. Dann kam der Regen

Nach der Premiere erfrischt der Autor sich mit einem Mineralwasser und wirft einen Blick auf die unter I. beschriebenen Außenanlagen des Leipziger Schauspiels. Er sieht: Inzwischen hat es begonnen zu regnen. Das war die erste Halbzeit. Für die zweite hat sich der Autor die Geburtsstunde der Demokratie aus dem Geiste des Betrugs ausgeguckt. In der Übersetzung von Peter Stein ist Aischylos‘ „Orestie“ ein Angebot, welches – trotz Verdacht – kaum abzuschlagen, respektive kaputt zu kriegen ist, oder?


IV. 2. Spielzeit: Surprise! – „Die Orestie des Aischylos: Agamemnon, Choephoren, Eumeniden“ (Regie: Wolfgang Engel)

Wer mit dunklen Vorahnungen die mit Holz gerahmte Studiobühne betritt, wird produktiv enttäuscht. Der runde, steil ansteigende Bühnen/Zuschauerraum, in dessen Mitte um und auf einem großen runden Holztisch das Spielzentrum liegt, ordnet die Reihen der Anwesenden und verweist ironisch-sympathisch auf die Ursprungszeiten des Theaters. Kleine Holzfigürchen auf dem Tisch unterstreichen die Handlung, sind eigentlich unnütz, aber stören nicht. Nach kurzer Verdunkelung findet sich die Szene in helles, summendes Licht getaucht. Es folgen: die Heimkehr des Kriegsherren Agamemnon, seine Ermordung durch seine Ehefrau Klytaimnestra, die Rache beider Kinder an eben dieser, die Verfolgung des Orestes durch die Furien und schließlich sein Freispruch im – in diesem Kontext gegründeten – Aeropag. Zugegeben: Dies ist die Kurzversion.

Wolfgang Engel entwirft die Inszenierung, im Besonderen die Chorpartien, zunächst als szenische Lesung. Man sitzt um den großen Tisch herum, die Frauen tragen schwarze Kopftücher, der Chor trägt Trauer. Seine Diktion ist zwar von Kampf- oder Trauermeute gleich weit entfernt, wirkt im Rahmen der Studiobühne aber beinahe vertraulich, kammermusikalisch. Wenn der Chor dann später in der Nacht singt, wünscht man sich mehr davon, einfach mehr davon. Denn es wächst demselben im Gesang eine Qualität zu (oder: er lässt sie ahnen), die er sonst leider selten erreicht: Erinnerung an einen vor- oder anders-individuellen Zustand zu sein und zugleich das Nicht-mehr-verstehbare der Tragödie zu unterstreichen.

Aber der Chor steht nicht im Zentrum des Regieinteresses. Dorthin hat es die einzelnen SchauspielerInnen verschlagen. Deren Partien sind teilweise gutes Handwerk, im Einzelfall mehr: Ellen Helwig als Klytaimnestra lebt von der Unerschütterlichkeit ihrer Gesichtszüge und Gesten, in denen das Nachbeben der Gewalt spürbar wird. Die Gattenmörderin erhält dadurch beinah statueske Züge. Jens Wintersteins Agamemnon ist ein wenig bürgerlich geraten, aber sympathisch, sein Apollon stellt einen versierten Rhetoriker dar. Die Elektra Carolin Conrads lässt einen Moment lang, den Gesang des trauernden Frauenchors einleitend, den Tonfall der Klage aufkommen und bestimmt damit den intensivsten Moment des Abends. Ihr Spiel wirkt fremd und verrät die Figuren doch nicht, liefert sie nicht den ZuschauerInnen aus. Die „Orestie“ Wolfgang Engels ist eine kleine Überraschung. Ein klares, sicheres Arrangement, wenig Unnützes, dafür konzentriertes Spiel. Ein wenig störend wirkt manche Textunsicherheit, dagegen hebt der Lesungs-Charakter des Stückes die Spielsituation angenehm hervor. Die Lieder des Frauenchors allein sind ein, wenn auch im großen Stil ausbaufähiges, Argument für die Wahl der Trilogie.


III. Dann regnete es noch immer

Ab 24 Uhr steht Tanz und Musik auf dem Plan. Laut Programmheft spielt die so genannte „Leipzig Big Band“. Eine Frau singt dazu. Das Publikum scheint mitzugehen, manch einer/eine trinkt noch ein Bier mehr. Vom Ende des Abends kann nicht berichtet werden, denn gegen 1 Uhr schaute der Autor aus der Eingangstüre des Schauspiels, stellte fest dass es noch immer oder schon wieder regnete, knöpfte seine Jacke zu und beschloss, es sei Zeit nach Hause zu gehen. Was er dann auch tat.


(Michael Wehren)

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