„Vergewaltigung ist kein Tabu“

Interview mit Jürgen Vogel, Sabine Timoteo und Matthias Glasner über ihren Film „Der freie Wille“

Schon lange nicht mehr hat ein deutscher Film derart die Meinungen gespalten wie „Der freie Wille“. Er erzählt von dem Vergewaltiger Theo Stoer, der nach neun Jahren aus dem Maßregelvollzug entlassen wird und die weitaus jüngere, von ihrem Vater psychisch missbrauchte Nettie kennen lernt. Doch ihre Liebe wird von der Vergangenheit eingeholt.

Sieben Jahre hat Matthias Glasner („Sexy Sadie“) als Regisseur, Koautor, Koproduzent und Kameramann an dem knapp dreistündigen Film gearbeitet und damit ein radikal eigenwilliges Werk vorgelegt. Unterstützt wurde er dabei von Jürgen Vogel, der für seine künstlerische Leistung als Hauptdarsteller, Koautor und Koproduzent auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Durch die schauspielerische Tour de Force begleitete ihn Sabine Timoteo („Gespenster“), eine der interessantesten gegenwärtigen Nachwuchsschauspielerinnen.

Herr Vogel, einer der großen Streits, die sich an Ihrem Film entzünden, dreht sich um die Frage: Darf man die Perspektive eines Vergewaltigers einnehmen, ohne gleichzeitig die der Opfer aufzuzeigen?

JÜRGEN VOGEL: Diese Frage stellt sich vor allem dann, wenn man den Film nicht gesehen hat. Weil dieser Vorwurf hilft zu sagen, ich muss den Film gar nicht sehen. Aber er ist völlig unberechtigt, weil es mit der Figur der Nettie auch eine weibliche Perspektive gibt, die in der Vergangenheit Phasen eine Opferposition hatte – ich rede nicht von sexuellem Missbrauch. Das beruhigt diesen Vorwurf, sofern es da überhaupt etwas zu beruhigen gibt. Ich glaube, wer den Film gesehen hat, sagt so was nicht.

MATTHIAS GLASNER: Ich habe gerade ein Interview mit Corinna Harfouch gelesen, mit der ich ja fünf Filme gemacht habe. Da gibt sie eine wunderbare Antwort auf die Frage, ob sie keine Berührungsängste hätte, Figuren wie Magda Goebbels und Eva Braun zu spielen: „Ich bin Täterin, ich habe keine moralischen Bedenken. Meine Bedenken fangen erst bei der Qualität an.“ Genau darum gehts! Es geht darum, ob du was gut oder schlecht machst. Ob man etwas mit dem unbedingten Willen zur Qualität macht. Dann kann man alles machen.

Frau Timoteo, mit welcher Motivation haben Sie die schwierige Rolle der psychisch missbrauchten Nettie angenommen?

SABINE TIMOTEO: Bei mir ist es ja nicht so, dass ich eine Rolle nur um der Rolle willen annehme. In diesem Fall hat mich das ganze Projekt angesprochen – und die beiden Jungs. Ich hatte das Gefühl, die hatten einen ganz starken Drang, diesen Film zu machen. Dadurch ergab sich eine bestimmte Konsequenz in ihrer Arbeit, die den Zuschauer ganz anders auf sich selbst zurückwirft, weil er sich nicht an bestimmten Erklärungen festhalten kann. Und genau dieser Aspekt, dieses Thema auf diese Art zu erzählen, hat mich wahnsinnig fasziniert.

Drastisch gefragt: Was bringt es denn, aus einem Vergewaltiger einen Menschen zu machen?

JÜRGEN VOGEL: Das ist ein Mensch. Ich muss das nicht erst machen. Was bringt es eigentlich, aus einem Vergewaltiger keinen Menschen zu machen? Selbst die Frage impliziert schon, dass er gar keiner ist. Das ist lustig, dass die Gesellschaft immer verleugnet, dass es ein Teil von ihr ist. Einer, der falsch parkt, ist dann ja auch kein Mensch mehr, der ist ja unordentlich.

Dennoch verweigert sich „Der freie Wille“ einer Psychologisierung. Zum Beispiel haben Sie den Drehbuchteil über Theos Kindheit letztlich weggelassen. Warum?

JÜRGEN VOGEL: Weil es im Film darum geht, wie es ist, wenn es einer schon getan hat. Der Film setzt ja an dem Punkt an, wo die Vergewaltigungen letztlich schon passiert sind, und nicht vorher. Wenn man irgendwas von Theos Eltern oder so erfahren hätte, hätte man das den Taten gegenübergestellt. Das wäre wie eine Entschuldigung gewesen. Das ist zu einfach, das darf man nicht machen. Es geht ja nicht um Erklärungen. Es geht darum, dass es so ist, und wie die Gesellschaft damit umgeht, dass es Menschen gibt, die schlimme Dinge tun. Es geht darum, dass es ein Teil von uns ist. Genauso wie auch wir auf anderen Ebenen manchmal schlimme Dinge tun. Es gehört zu uns dazu, es ist kein Tabu.

Sie werden nicht müde zu erzählen, dass in der Figur des Theo viel von Ihnen selbst steckt. Welche Eigenschaften dieses Vergewaltiger sind das?

JÜRGEN VOGEL: Das würde ich nie sagen. Ich sag nur immer, dass das ein großer Teil von mir ist. Weil im Film so viele Dinge neben der Tat eine Rolle spielen. Wenn ich einen Mörder spiele, hat das auch ganz viel mit mir zu tun – und ich habe bis heute noch niemanden umgebracht. Es gibt Dinge, die sollte man einfach mal an sich ranlassen. Man sollte nicht immer die Türen zu machen und so tun, als wenn man mit alldem überhaupt nichts zu tun hat. Immer diese positiv-moralisch-christliche Abgrenzung – diesen Druck hatte ich nie. Ich hab auch nicht den Komplex, das tun zu müssen. Vielleicht bin ich deswegen relativ aufgeräumt. (lacht)

Frau Timoteo, nachdem Nettie und Theo die überwiegende Zeit des Films dabei waren, Normalität und Stabilität in ihr Leben zu bringen und eine Beziehung miteinander aufzubauen, gibt es eine radikale Kehrtwende, als Theo ihr seine früheren Vergewaltigungen gesteht. Können Sie die Radikalität nachvollziehen, mit der es dann in ihr durchgeht und sie sogar ein früheres Opfer von Theo aufsucht, um sich demütigen zu lassen?

SABINE TIMOTEO: Sie versucht zu verstehen. Das, was sie von Theo da in die Fresse bekommen hat – zack zack zack, die verbalen Schläge -, das versucht sie jetzt zu verarbeiten. Sie versucht zu verstehen, wer dieser Mann wirklich ist. Das Opfer aufzusuchen ist eine Möglichkeit, sich dieser grausamen Seite, die sie selbst nicht hat, zu nähern. Viele Zuschauer bewegt das. „Wie kann sie das machen?“, fragen sie. „Das kann ich nicht nachvollziehen, warum wehrt sich Nettie nicht?“ Das sind Sachen, die muss jeder für sich entscheiden, wie er das handhabt.

Der Film ist insgesamt sehr offen gehalten. Im Anschluss an die Leipziger Vorpremiere in den Passage Kinos fiel häufig die Frage: „Welche Haltung hat der Film eigentlich?“ Warum verweigern Sie sich so konsequent einer Antwort, Herr Glasner?

MATTHIAS GLASNER: Ich würde doch meinen eigenen Film schädigen, mir selber widersprechen und mich selber lächerlich machen, wenn ich das, was ich im Film bewusst aufgebaut und gestaltet habe, hinterher wieder kaputtmache. Gerade dass die Leute so nach Hilfe schreien und sagen: „Ich will hier eine einfache Antwort, meine Ruhe haben und damit abschließen“, zeigt ja, dass man eine ruhige Antwort nicht geben kann. Sonst würden die Leute ja tatsächlich damit abschließen. Und genau das Gegenteil tut der Film.

„Der freie Wille“ ist auch in seiner Machart extrem ungewöhnlich. Vermissen Sie im Kino Filme, die sowohl inhaltlich als auch formal neue Räume eröffnen?

MATTHIAS GLASNER: Es sind die Filme, die ich selbst am allerliebsten gucke und die bei mir am längsten nachwirken. Ich komme aus Altona, aus einfachen, nichtkulturellen Verhältnissen, und ich glaube, wenn ich die Filme nicht gehabt hätte, die bei mir neue Räume eröffnen, wäre ich Kleingangster oder so was geworden. Für mich war das Kino ein Ort, um mein Bewusstsein zu erschließen. Das hat dazu geführt, dass ich geworden bin, wie ich bin. Aber das habe ich mir durch diese Filme selber erarbeitet und nicht, indem mir Filme vorgesetzt wurden und sie mich geöffnet haben.

Frau Timoteo, auf der Leinwand erscheint Ihr Spiel als zermürbender Kraftakt. Sind sie auch innerlich bis an die Grenzen gegangen?

SABINE TIMOTEO: Ich hätte Matthias ja eigentlich abgesagt, weil ich dachte, ich pack das kräftemäßig nicht. Ich kam gerade aus einem anderem Dreh und war ziemlich erschöpft. Es erschöpft mich einfach zu spielen. Es laugt mich aus. Und da dachte ich: Wie kann ich denn so eine Rolle spielen, bei der ich mich immer wieder so ganz arg hingeben muss? Das kann man nicht halb machen. Ich kann eigentlich nie was halb machen. Ich finde, entweder man machts oder man machts nicht. Aber wenn man was halb machen möchte, wenn man sich schützen möchte, dann lässt mans lieber. Denn dann ist es einfach nur peinlich.

Herr Vogel, Sie sind derzeit in einer ganzen Reihe von Kinofilmen zu sehen: in „Emmas Glück“, „TKKG“ und ab Oktober in „Ein Freund von mir“. Was treibt Sie an?

JÜRGEN VOGEL: Manchmal ist es Geld. Es ist immer eine Kombination. Bei manchen Filmen verdiene ich nur wenig und dann denk ich: Scheiße, mach ich das jetzt? Dann gibts immer verschiedene Punkte wie zum Beispiel: okay, Komödie hab ich eigentlich auch schon lange nicht mehr gemacht, oder mit dem hab ich noch nicht gearbeitet. Ansonsten wurden diese Filme, die nun alle im Herbst rauskommen, ja auch in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren gedreht.

Dabei grenzt Ihr körperlicher und psychischer Einsatz fast schon an eine Art Selbstzerfleischung. Haben Sie nicht Angst dabei zu verglühen?

JÜRGEN VOGEL: Ich glaub nicht, dass man das kann. Solange Drogen keine Rolle spielen, kann man nicht so einfach verglühen. Es kommt auch drauf an, wie groß das Herz ist, das jemand hat. Das war auch früher immer so ein Klischee, womit mich die Leute aufgeregt haben. Die haben immer gesagt: „Musst du nicht ein bisschen aufpassen, dass du nicht zu viel machst?“ Da hab ich gesagt: „Wieso?“ „Ja, weil man sich so auserzählt.“ Ich so: „Nee, hab ich keine Angst vor. Wenn du davor Angst hast, dann mach nicht so viel.“ Aber ich hab die Angst nicht. Es gibt bestimmte Sachen, wo es mich schon aufregt, das da irgendwo ne Grenze ist. Mich hat schon immer provoziert, wenn mir jemand gesagt hat: „Das darfst du nicht, man darf keine Serien drehen.“ Ich hab dann auch Serien gemacht. Weil ich Bock drauf hatte. Allein schon, weil mich das so gereizt hat, weil mich die Leute immer genervt haben: „Bist du eigentlich eher Kino- oder Fernsehschauspieler?“ Ich sagte dann: „Ich bin einfach Schauspieler.“ Ich hab auch auf Video gedreht und kann auch auf Super-8. Ist mir echt kackegal. Allein die Frage provoziert mich schon.

Der freie Wille

D 2006, 163 min
Regie: Matthias Glasner
Drehbuch: Jürgen Vogel, Matthias Glasner, Judith Angerbauer
Kamera: Matthias Glasner
Darsteller: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka

Kinostart: 24. August 2006

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