Die Moderne als Zerfall: Das Figurentheater Wilde & Vogel inszeniert Baudelaire (Tobias Prüwer)

„Spleen – Charles Baudelaire: Gedichte in Prosa“
Figurentheater Wilde & Vogel
Lindenfels Westflügel
Regie: Hendrik Mannes
Spiel: Michael Vogel
Musik: Charlotte Wilde
Uraufführung: 21. September
Weitere: 22.-24. & 28.-30. September


Modern Times: Das Figurentheater Wilde & Vogel inszeniert Baudelaire

Dieses Leben ist ein Hospital, wo jeder Kranke vom Wunsch besessen ist, das Bett zu wechseln. Der eine möchte vor dem Ofen leiden, und der andere glaubt, am Fenster würde er genesen.
Charles Baudelaire: Der Spleen von Paris

Sich in der Moderne einzurichten ist nicht jedermanns Sache. Das wusste bereits Charles Baudelaire. Nun zieht sein Spleen von Paris einen Kreidekreis um den Westflügel und gibt Kunde von Entwurzelung und Dekadenz, Wahnsinn und all den anderen Dämonen der Großstadt.

Verloren ziehen die Figuren ihre Kreise, manche ausgelassen tanzend, anderen ist die Not in Bewegungen eingeschrieben: zerrüttete Existenzen allesamt. Da erscheint ein steif gewordener Gaukler, hier wiegt eine Frau, deren Berufbezeichnung nicht unbedingt „Tänzerin“ ist, frivol ihre Hüften, dort raufen anonyme Alkoholiker um den letzten Tropfen. In morbiden Szenarien bewegt sich die Uraufführung vom Figurentheater Wilde & Vogel, die auch die erste eigene Inszenierung des Westflügels ist. Zerfall ist das Thema, das Stück eine Adaption von Baudelaires posthum publiziertem Der Spleen von Paris. Kein leichter Stoff, will man meinen, treibt diese Sammlung von Prosagedichten doch das modernetypische Phänomen der Großstadt um, den Alltag einfacher Menschen, beschreibt Entfremdung und Rausch, das allumfassend Hässliche und die Einsamkeit in der Vermassung. Unter Hendrik Mannes‘ Regie findet die Inszenierung jedoch Zugang zum poetischen Potenzial von Baudelaires‘ Werk und erweckt eindrucksvolle Miniaturen, in denen Ausgeliefertsein zu den Mitmenschen und die wahllose Erfahrung von Lebenslust und -Leid als Mengelage vielstimmiger Dissonanzen kunstvoll in einen ästhetischen Rahmen gesetzt wird, der die Tragik des Themas abfedert, aber nicht abwiegelt.

Tristesse regiert den Bühnenraum, der nicht viel mehr als leer ist. Die Figuren liegen wie Haufen verstreut herum, werden zum Spiel aufgenommen, danach wieder fallen gelassen. Von Charlotte Wilde im Hintergrund musikalisch untermalt – Szenenbeschreibungen finden sich von Kinderstimmen aus dem Off vorgetragen -, verleiht ein virtuoser Michael Vogel den Figuren temporäre Existenz. Den Schauder von Baudelaires‘ ProtagonistInnen übertragend, treten froschgesichtige Wesen auf, werden deformierte Körper verrenkt, zeugen Stofffetzen vom Fragmentarischen des Daseins. In viele Figuren sind kleine Apparaturen und ausgeklügelte Mechanismen hineingearbeitet, die es Vogel erlauben bis zu drei mit einem Male zu führen. Zuweilen in Symbiose mit seinem Körper, nutzen ihn die Figuren als Spielfläche, scheinen sich daran hochzuziehen oder anderweitig als Objekt freier Verfügung zu betrachten. In andauernder Metamorphose führt sich hier im Medium von Figuren-, Körper- und Maskenspiel die Zerrissenheit vermeintlich unteilbarer Individuen schillernd vor Augen.

Außergewöhnlich findet sich der ‚Spleen‘ der Moderne im Westflügel in Szene gesetzt und die ihr inhärenten Pathologien als Abfolge von Scheitern und Verderben illustriert. Ganz ohne intellektuelles Pathos werden auch unsere Lebenswelten reflektiert, werden die Illusionen von Autonomie und Identität in einer Zeit sichtbar, die keine Gefangenen zu machen scheint. In der Anmut eines Totentanzes, im Reigen der Großstadtsiechenden, offenbart sich das Zombiedasein als Herumirren verlorener Seelen im urbanen Labyrinth.

Ja, die Zeit herrscht, sie hat ihre brutale Diktatur wieder aufgenommen.

(Tobias Prüwer)

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