Lesenswertes Zeitkolorit: „Halbstadt” von Reinhard Kiefer (Rosemarie Zens)

Reinhard Kiefer: Halbstadt
Lesung im LCB
Anlässlich der Tagung der Heimito von Doderer Gesellschaft
Rimbaud Verlag – Aachen 2006
8. September 2006


„Was heißt schon Geschichte, was lässt sich erzählen?“

Umrahmt vom Zeitfenster der 80er Jahre kreuzen sich die seit der Schulzeit miteinander verbundenen Lebenslinien des Schriftstellers Toni Klingson, des Malers Alexander Müller und der Kunstagentin Veronika Vogler – in sechzehn Kapiteln, beginnend und endend mit dem Silvestertag 1989. Anhand von Vor- und Rückschau werden ausgewählte Detailschilderungen wie ein Mosaik auf einem orientalischen Teppich oder auf einer Leinwand kunstvoll ausgelegt und vorgeführt in fabulierender Erzählweise. Diese findet ihre kongeniale Entsprechung in Stimme und Vortrag des Autors selbst. Die Szeneneinteilung folgt dem Prinzip von Filmschnitt beziehungsweise Wechsel von Kameraeinstellungen. Die einzelnen Stimmen der Figuren erhalten in Bezug zueinander erst im Gesamtbild (das der Leser/Hörer nach und nach zusammensetzt) eine Orchestrierung, die sie schärfer, klarer und bedeutungsvoller hervortreten lässt. Hilfreich dabei zeigen sich die Wiederholungen von zum Teil abgewandelt wiederkehrenden Themen und deren Motiven, die eine zusätzliche Eindringlichkeit hervorrufen.

„Was heißt schon Geschichte, was lässt sich erzählen?“ (S. 314) Die Wahrheit einer Geschichte lässt sich eben doch nur festmachen am Schnittpunkt vieler Bewusstseine. Und dies thematisiert der Roman nicht nur, sondern führt es formal vor. In den Selbstgesprächen und anderen Dialogformen wirken die einzelnen Anspielungen auf Literatur-, Kultur- und Zeitgeschichte nicht aufgesetzt oder beliebig, vielmehr stellen sie in ihrer Auswahl und Prägnanz die geistige Struktur her, aus dem der Roman seine Stärke bezieht. Auch wenn die „auktorial“ bestimmte Haltung kaum auszumachen ist, bestimmt sie doch den Erzählfortgang in den Vorlieben und Abneigungen der Hauptfiguren, deren Ironie und Distanz zu bestimmten Dichtern, Musikern und Malern oder Neigung für sie. Die klassische Romantik wird ebenso bevorzugt (in Anspielung von Namen und Zitaten) wie der erzählerisch fließende „stream of consciousness“.
Die Frage ist: wie steht der Autor grundsätzlich zu seinen Figuren? Hält er sie an der langen Leine? Jedenfalls denunziert er sie nie, auch wenn er sie meist reden lässt, „wie ihnen der Mund gewachsen ist“. Das macht ihre Lebendigkeit aus.

Das Zeitkolorit einer Generation, die in den 80er Jahren zwischen 30-40 Jahre alt war, spiegelt sich in deren Wünschen, Möglichkeiten, Hoffnungen und Ängsten. Auch in der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Es geht um die soziale Mittelschicht, das ehemals so genannte Bürgertum. Hier wechseln sich beklemmend oder sogar trostlos geschilderte Situationen wie das Weihnachtsfest (S. 172) mit komischen Szenen über die Kühltruhe als Leichenkiste ab (S. 92) und diese wieder mit satirischen Beschreibungen des Kulturbetriebes (S. 190). Ein Bewusstseinspanorama wird vor dem Leser ausgebreitet über treffende Erkenntnisse zu Männer- und Frauenbeziehungen und über das Dasein als Künstler. Durchgängig ist das Motiv der Vergänglichkeit, der Zwiesprache mit den Toten; es gibt Friedhofsbesuche und -beschreibungen: „Ein Reden aus ihren Urnen. Die Seelen versammeln sich hier. Sie erinnern sich, erinnern sich an jede Kleinigkeit vermutlich. Sie haben verlernt, restlos verlernt, irgendetwas zu vergessen…“, gefolgt von einer Art Friedhofsmeditation gegen Ende des Romans:

„Der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht. Die Helle des Tages, an die man sich erinnern möchte, an die man sich auch noch in der Nacht, in der Finsternis zu erinnern wünscht. Nichts mehr davon. Ein Unheil von Anfang an. Man ahnt es, sicher, man ahnt es. Doch gesteht man es sich nicht ein. Nein, man sieht in das Licht und lässt sich blenden… Nun ist es vorbei…Es tritt Stille ein. Wunschlosigkeit.. Abwesenheit. Was sollte man sich wünschen? Die Stille. Vielleicht, dass man hört, wie das Gras wächst, und dafür hat man dann ein Ohr. Nur noch für dieses Geräusch, das gewöhnliche Ohren nicht aufzunehmen in der Lage sind. Wenn sie Ohren hätten, fraglos, sie würden das Gras wachsen hören. Ohrlos. Mundlos. Dann Dunkelheit. Nichts anderes. Hat es den Toten die Sprache verschlagen? Das wohl nicht. Gibt es denn den Augenblick, wo auch sie endgültig schweigen und sich verflüchtigen? War die Sprache der Rest von ihnen, der sich nun aufgebraucht hat? Ein Klingen, ein Klagen, das ins Schweigen führt und dann Nichts?“

Mythen haben keinen Ort und keine Zeit, heißt es in diesem Erzählwerk an anderer Stelle. Doch möchte man widersprechen: Es gibt diesen lesenswerten Roman.

(Rosemarie Zens)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.