Reisebrief

Das französischen Vokalensemble „Les Jeunes Solistes” singt bei den Dresdner Tagen der zeitgenössigen Musik

„Freiräume“ überschreibt Udo Zimmermann, der Intendant des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau seinen Beitrag zu den zwanzigsten Dresdner Tagen der zeitgenössigen Musik. Das Festspielhaus, von Heinrich Tessenow in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Theatertheoretiker und Bühnenbildner Adolphe Appia 1911 entworfen, ist befreit von den klassischen Hierarchien. Künstler und Publikum können sich im großen Saal frei situieren, die Architektur gibt keinen Standpunkt vor, Künstler und Publikum müssen sich jedes Mal von neuem diesem Anspruch stellen.

Mit dem Einzug des Institutes „Dresdner Tage“ in das rekonstruierte Festspielhaus ergeben sich neben den architektonischen Bedingungen geistige Bezüge zu den revolutionären Strömungen der klassischen Moderne. Zeitgenössige Musik im Spannungsfeld von Experiment, offenem Diskurs und der Unbedingtheit des Dialoges zwischen allen Künsten. Eine Spannung zwischen räumlicher und geistiger Verortung, die einem schon beim Anblick des hell erleuchteten Festspielhauses in der von kleinteiligen Siedlungsbau geprägten Umgebung empfängt.

Das französische Vokalensemble „Les Jeunes Solistes“ wurde 1988 von Rachid Safir gegründet, das Repertoire spannt einen Bogen von der Renaissance bis zur Jetztzeit, wobei die Beschäftigung mit heutigen Kompositionen einen Schwerpunkt bildet. Die Anzahl des Ensembles variiert zwischen vier und zwanzig. Höchstprofessionelles Arbeiten ist Voraussetzung, da jede Stimme nur mit einem Sänger, einer Sängerin besetzt wird.

Regis Campos „Les cris de Marseille“ ist in enger Zusammenarbeit mit Rachid Safirs Ensemble entstanden, vierstimmig transformiert der Satz das Leben auf den Straßen und Märkten von Marseille. Die Poesie, die im Gossenjargon, in den Kraftausdrücken der einfachen Leute steckt, wo wird sie deutlicher als auf einem Fischmarkt am Alten Hafen von Marseille. Campo hat das Stimmengewirr auseinandergenommen, einzelne Farben isoliert, um sie dann zu einer groovigen Struktur wieder neben- und übereinander zu montieren. Die Musiker erreichen in dem rhythmischen Stück eine bestechende fast sinfonische Musikalität.

Bruno Gillets und Jose Manuel López López´ Kompositionen arbeiten mit Hilfe des Computers. Zuspielungen erzeugen eine sphärische Atmosphäre, die strahlend schönen Stimmen setzen Akzente in diesem Klangraum. Experimente mit der Sprache, mit Harmonien, und Klangfarben, auf welche sich die Sängerinnen und Sänger mit der gleichen Konzentration einlassen, wie auf das „Geschrei von Marseille“.

Kaija Saariahos „Tag des Jahres“ nach einem Gedicht Friedrich Hölderlins folgt im Muster altertümlichen Choralformen. Hölderlin lässt in seinem Text ein Jahr in seinen Jahreszeiten vorbeiziehen: „Wenn neu das Licht der Erde sich gezeigt, ….“ noch frühlingshaft zart und behutsam montiert die Komponistin die Stimmen, „Die Tage gehen vorbei mit sanfter Lüfte Rauschen, …“ ein linearer sommerlicher Gesang wird durch Einspielungen verdoppelt, „Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen, ….“ perkussive Einspielungen von Naturklängen, die herbstliche Natur wird kraftvoller, rhythmisch mit jazzigen Elementen agiert das Ensemble, „Wenn sich der Tag des Jahrs hinabgeneigt, …“ ruhig, jetzt deutlich in der Tradition altertümlicher Choralformen endet das Jahr.

Ein schöner Kontrast dann Giacinto Scelsis „Sauh IV“. Deutlich spürt man die authentische Kraft in seiner Komposition. Weder inhaltlich assoziativ noch einer strukturellen Idee folgend ist das Stück auf die kleinste Einheit – den Ton heruntergebrochen. Silben schweben durch den Raum, Töne werden in ihrer Länge und Farbe variiert. Das entstehende Klangbild ist offen und weist über das augenblicklich physisch Hörbare hinaus. Durch die Anordnung, zwei Sänger vor dem Publikum, die weiteren sind nicht sichtbar in den Seitenbühnen, klingt der gesamte Raum. Die Erinnerung an das geheimnisvolle Klingen von Seitenschiffen gotischer Kathedralen schafft eine knisternde Spannung.

Zum Abschluss Claude Vivier „Love Songs“: nach der kontemplativen Komposition Scelsis ein Stück mit beinahe musikdramatischen Qualitäten. Zitate von Novalis, Hesse, Shakespeare werden vom Ensemble kommentiert. Zustimmendes Strahlen oder ablehnendes Räuspern – „Les Jeunes Solistes“ zeigen, dass sie über ein gutes Stück Humor verfügen. Ein schöner Abschluss und Ausblick: Neue Musik voller Emotionalität und Klangpoesie – das Publikum ist begeistert.

20. Dresdner Tage der zeitgenössigen Musik

Les Jeunes Solistes
Regis Campo (geb. 1968)
Les cris de Marseille (UA der Neuen Version)
Bruno Gillet (geb. 1936)
Sicut locutus est
Jose Manuel López López (geb. 1956)
Sottovoce
Kaija Saariaho (geb. 1952)
Tag des Jahres (UA der Neuen Version)

*****
Giacinto Scelsi (1905 – 1988)
Sauh IV
Claude Vivier (1948 – 1983)
Love Songs
Rachid Safir Musikalische Leitung
Aurore Bucher, Anne-Marie Jacquin, Maryseult Wieczorek Sopran
Magid El-Bushra Countertenor
Edouard Hazebrouck, Laurent David Tenor
Jean-Christophe Jacques Bariton

Donnerstag, 5. Oktober 20.00 Uhr, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste, Großer Saal

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