Queer zum Mainstream

Beim Zacker Music Festival verschmelzen verschiedene Elemente wie Konzert, Ausstellung, Diskussion, Film, Tanzkurs und Party zu einer komplexen Auseinandersetzung

I. Hot topic – Worum geht’s?Queer ist Chiffre, Versprechen, Hoffnung und Begehren zugleich. Zeichen für ein mögliches „sich einrichten“ im Zwischenraum sexueller Identitäten, zwischen dem berühmt-berüchtigten Gegensatzpaar „sex“ und „gender“ (natürliches und soziales Geschlecht). Und damit ist man mitten auf dem Feld der Identitätspolitik angelangt, irgendwo im Niemandsland zwischen Travestie, Dekonstruktion, Theorie und Praxis, Pop und Philosophie. Dem Begriff entsprechend gab sich das das Bouygerhl. Zacker Music Festival betont vielseitig: Vorträge, Diskussionen, bildende Kunst, Film sowie viel, sehr viel Musik. Denn Veranstalter Zacker hat in Leipzig sozusagen das Monopol auf den Sound zur sexuellen, normativen und ästhetischen Transgression.

II. Pictures of You/The Bluetit

Eröffnet wurde das Festival um 19 Uhr in den Räumen des Delikatessenhauses, gleich gegenüber der Schaubühne. Neben Video und Photoarbeiten gab es unter dem Titel „Whatever I am is for today“ alte Zackernightsplakate zu sehen. Im Konventionellen verbleibend, boten die Werke der KunstproduzentInnen Winja Lutz‘, Gecédille’s und Möe’s vor allem solide Arbeit und wenig Neues.

Anschließend folgte im großen Saal der Schaubühne Lindenfels Wolfgang Müllers Eröffnungsvortrag: „Neues zum Geschlecht isländischer Elfen und Zwerge und: Ist das deutsche Urheberrecht eher männlich, weiblich oder auch sächlich?“. Müllers Kunst-Welt ist nicht nur absonderlich und voller Sprachwitz, sondern erweist sich stets von neuem als Kosmos eines überraschend souveränen Erzählers. So auch an diesem Abend. Mühelos verband der Direktor der „Walther von Goethe Foundation“ enzyklopädisch-exaktes Wissen über Name, Herkunft, Verbreitungsgebiet und Lebensart der Blaumeise (auch „Bluetit“ genannt), Reinszenierungen altnordischer Göttergeschichten, Anekdoten zu Kurt Schwitters und Lieder über isländische Penismuseen, immer wieder angereichert und ergänzt um absurd-lächerliches aus der juristischen Korrespondenz eines Künstlerlebens. Respekt an Herrn Müller und Mr. Zacker, der mit seiner Einladung eine glückliche Hand sowie Mut bewies. Im Ganzen eine gelungene Eröffnung mit viel Witz und Köpfchen.

III. Hot on the Heels of Love – Die Performances

Tag eins: Dank der Bar im Westflügel erwies sich die nun folgende Pause als leicht zu überbrückendes Hindernis. Der Saal füllte sich nun langsam aber sicher. Die Publikumszusammensetzung fiel zwar soziologisch gesehen wenig überraschend aus, dennoch erwies sich die Mischung von HGB-KunstproduzentInnen, Judith-Butler-Belesenem-Studentenvolk, Punks, Gothics (Haben wir da noch mehr Schubladen?) etc. pp. als durchaus partytauglich – trotz der für Partys einfach tendenziell ungeeigneten Räumlichkeiten der Schaubühne. Es folgen die Acts des Abends in order of appearance:

Gene Serene: Laut Programmheft „die neue Queen of perverted pop„; wirkte auf der großen Bühne jedoch ein wenig verloren. Während einiger sehr, sehr schlimmer Momente klang die Londonerin zwar wie eine fürchterliche Kreuzung zwischen dem Euro-Techno von VNV Nation und dem eigentlich tollen Krawallrap einer Peaches, dennoch nahm das Leipziger Partyvolk das Ganze wohlwollend- freundlich auf.

Miss Fish: Das Kopenhagener Elektro-Gothic Projekt bot eine trashige Show, eine lausige Coverversion von Joy Division „She’s lost control again“, hob aber massiv den Stimmungspegel und hatte dank der extrovertierten Miss Fish im Vergleich zur Vorband nicht nur die besseren Beats, sondern auch eindeutig die bessere Show.

File under: Bee Gees trifft Fields of the Nephilim.

X and the living end: Das Electroniccat/Miss Le Bomb Seitenprojekt erwies sich als vorläufiger Abräumer des Abends. 80er-elektrifizierte 50s und 60s Musik brachte das Publikum in Stimmung und sorgte für hedonistische Ausdruckstänze in der ersten Reihe. Einfaches Rezept, erstaunliche Wirkung, sympathisch und emotional-ästhetisch wunderbar unter Null.

Nuclear Family: Mitten in der Nacht folgte dann noch eine Special Performance: die scheinbar völlig besoffenen Mitglieder von Nuclear Family zeigten dem Publikum nicht nur ihre Genitalien, sondern gaben dazu auch zwei Lieder, als Vorgeschmack auf den kommenden Abend, zum Besten. Extrovertiert asozial wie man sich gab, gelang dennoch ein intensiver, teils bedrohlicher (weil überraschender) Auftritt, hart an der Punk/Popgrenze. Der absichtsvoll stumpfe Sound und der Themenkreis der Texte hinterließen den Eindruck einer Travestie-Trash-Version der notorisch-berüchtigten Whitehouse. Das wäre inhaltlich/ideologisch vielleicht noch mal zu diskutieren – auch gerne beispielsweise unter Gesichtspunkten feministischer Theoriebildung und im Kontext eines Queerfestivals, in welchem gesellschaftliche Ideologeme zur Disposition stehen.

Tag zwei: Wir wiederholen den oben erklärten Aufbau.

Noisy Pig: Mit etwa einer Stunde Verspätung begann die Show des Berliners. Aber na klar, wir sind hier nicht in der Oper. Sein Comedy-Quietsche-Electro überraschte manchen und zauberte erstes Kopfnicken hervor.

Nuclear Family: Anti-Ästhetik, Überaffirmation, Trash, Verrohung, Elektroasipunk, etc. pp.. Siehe oben, nur weitaus aufgeräumter, leiser und mit Mini-Schaumküssen bewaffnet. Textlich irgendwo zwischen Whitehouse und Cannibal Corpse. Wer deren „Fucked with a knife“ für einen großartigen, einfach nur lustigen Text hält, kam hier auf seine Kosten.

Team Plastique: Ähnliche Strategien einer Ästhetik des Hässlichen verfolgten die drei seit 2004 in Berlin ansässigen Criminal Queers. Immerhin bereichert um eine Live-Gitarre wagte man sich in Richtung Performance vor, schonte das Publikum nicht und verhalf der alten Abgebrühten-Weisheit „Bei Performances zieht man sich halt nicht die besten Sachen an, vor allem nicht wenn man in den ersten Reihen sitzt“ zu erneuter produktiver Bestätigung. Musikalisch durchaus versiert, showtechnisch weit vorne, und dank zweier extrovertierter Sängerinnen gnadenlos unterhaltsam.

IV. Calling for Vanished Faces – Die DJsets

Death Disco, Angstpop, Minimal Elektro, Electroclash, NoWave: das Dictionary Of Cool hält ein ganzes Bündel von Begriffen für das Gebotene bereit. Von David Bowie, über Interpol, Alex Gopher oder p1e bis hin zu Geheimtipps wie Delta Five’s „Mind your own business“ reichte das Spektrum und brachte alle die nichts gegen Lärm und Kälte haben zum Tanzen. Ganz nebenbei: wer im Jahre 2006 während eines DJ-Sets noch (oder schon wieder) Weltklang’s spartanisch-minimales „Heimat“ spielt, gehört ganz einfach geadelt.

V. I’m in Love with Jacques Derrida – Over and Out/Das Fazit

Ein Tanzkurs, Karaoke mit Miss Cleenex, wichtige Filme (die Dokumentation: The Nomi Song), Vorträge zum Thema „Queer“ (Kristin Wojke und Jolanda Bucher), noch mehr wichtige Filme (Female+Queer Words+Beats II) und eine Outro-Lounge im allseits geschätzten und beliebten Noch Besser Leben versüßten das Festival nicht wenig. Dieser Rahmen hatte Stil und reflektierte ein wenig was hier eigentlich vor sich ging. Dennoch wurde die Chance, Theorie und Praxis im Kontext des Festivals miteinander produktiv kurzzuschließen, nicht genutzt – vielleicht schade.

Es bleibt ein gelungenes Event, eine Plattform jener Musik, die quer zum Mainstream liegt. Es bleibt weiterhin die Erinnerung an eine fantastische, wenn auch schwierig zu bespielende Location. Und zuletzt die Vorfreude auf das Konzert der Hidden Cameras am Mittwoch den 25. Oktober, eben dort.

Bouygerhl

Zacker Music Festival

20. – 22. Oktober 2006, Schaubühne Lindenfels

www.zacker-nights.de

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