Kritik der ökonomischen Vernunft – „und draußen tobt die dunkelziffer” (Tobias Prüwer)

und draußen tobt die dunkelziffer
Von Kathrin Röggla
Schauspiel Leipzig in Koproduktion
mit der Schaubühne Lindenfels
Regie: Thorsten Duit
Mit: Julia Berke, Susanne Stein,
Andreas Keller & Jörg Malchow
Musikalische Leitung: Juan Garcia
Premiere: 18. November 2006


„Wir haben Hunger!“ – Kritik der ökonomischen Vernunft

Es nennt sich System, Schluß, aus. Es erlaubt keinen Frieden, es garantiert Sicherheit, durch die Mittel des Wettbewerbs. Es verspricht keinen Fortschritt, es garantiert Entwicklung durch dieselben Mittel. Es hat keine anderen.
Jean-François Lyotard: Der Terror ist in uns

„Geiz ist geil,“ „Ich bin doch nicht blöd,“ „Billig will ich,“ rufen die Tempel. „Kürzen,“ sagen die Ämter, Inkassobüros vollstrecken. Gar nicht rosig ist’s am unteren Ende der Konsumleiter, wenn Bedürfnisse in Bedürftigkeit münden. Auf die Wunde im System legt das Stück und draußen tobt die dunkelziffer seinen Finger. Und bohrt darin.

Im Fokus der rasanten Show entlang der Schnittpunkte Armut und Benachteiligung steht die Konsummaschinerie, die den einzelnen Menschen lediglich als Goldhamster im Laufrad systemstützend betrachtet und Güterakkumulation zur einzig zulässigen Identitätsstiftung erklärt. In szenischen Miniaturen treten Disporückzahl-Zombies, Schufa-Belegte und Kaufberauschte auf, die spätmodernen Trappern in die Schuldenfalle tappten. Die Bühne ist ein Laufsteg, auf dem die Figuren ihre Bedürftigkeit zu Kleide tragen. Zwischendurch rufen Super-Konsum-Helden zum Showdown im Kaufhaus, ein gekonnt unmusikalischer Straßensänger (Juan Garcia) tritt auf und eine Schauspielerin (Susanne Stein) pumpt wie ihre Rolle transzendierend Zuschauende nach zwanzig Euro an: „Ich bin morgen wieder hier, versprochen.“

Die SchauspielerInnen (bestechend: Julia Berke und Andreas Keller) begeistern im flotten Spiel der fortwährend wechselnden Rollen. Die eingestreuten Gesangs- und Varieté-Einlagen nerven überraschenderweise nicht – traurige Ausnahme: Die Version von Alanis Morissettes Ironic -, sondern fügen sich als gelingendes Element ein ins Spektakel um das real existierende Elend.

Das Stück kommt pünktlich zur unsäglichen Debatte um die Existenz der Unterschicht. Denn nur weil man ein Faktum leugnet oder verklausuliert – Stichwort: Prekariat – verschwindet es nicht, höchsten von der politischen Agenda. Soziale Hierarchie und Ausbeutung finden aber statt in unserer Gesellschaft der feinen Unterschiede. Und während sich PolitikerInnen und ÖkonomInnen in Lippenbekenntnissen die systemische Lüge üben und Fortschritt als ewig während proklamieren, verklärt an der Möglichkeit zur Vollbeschäftigung festhalten und unbeschränkte Ladenöffnungszeiten mit Kultur verwechseln, zeigen sie sich als die eigentliche Parallelgesellschaft mit völligem Kontaktverlust zur sozialen Realität.

Die Kritik am Konsum als Zivilreligion ist bissig inszeniert (Regie: Thorsten Duit). Trotz humoristischer Elemente ist sie gerade kein lustiger Reigen von Figuren, die zu doof zum Haushalten sind, verweilt nicht bei der Veräppelung bankkauffräuischen Vokabulars. Den Zuschauenden bleibt das Lachen im Halse stecken, wenn zum Beispiel ein kleines Mädchen (Nora Dubilier) zaghaft „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger…“ singt und leise fragt: „Mama, wie schmeckt nochmal Wurst?“ Die Aufführung mündet mit einer SuperSchuldenShow in den zynischen Höhepunkt. Die KanditatInnen können als Gewinn ihre Schulden verlieren, im negativen Fall verdoppeln sich diese. Als der Deutsche-Bank-Lenker Ackermann, Mäzen der Show, im Wirtschaftssprech berauscht erklärt, Armut stelle sich nur für die Betroffenen als problematisch dar, scheint wirklich nur ein revolutionäres Moment Rettung versprechend: Die Katharsis im Stück erfolgt mittels Sprengsatz.

(Tobias Prüwer)

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