Beim Schälen – Günter Grass liest aus seiner literarischen Autobiografie (Constanze Kretzschmar)

Lesung – Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel
Schauspiel Leipzig
16. Dezember 2006


Beim Schälen – Günter Grass liest aus seiner literarischen Autobiografie

Günter Grass ist alt geworden. Den holzgetäfelten Saal des Schauspiel Leipzig betritt ein Herr, dessen Haar dabei ist zu ergrauen, dessen Füße langsam schreiten, mit einem Rücken, den er nicht mehr gerade hält. Das ist nun keine große Überraschung – schließlich ist Grass bereits 79 Jahre alt und das, was er an diesem Abend vorliest, hat er bereits vor sechs Dekaden erlebt.

Oder auch nicht erlebt. Vieles dessen, was Grass da liest, bleibt im Ungefähren, „womöglich“ zählt zu den häufig gebrauchten Wörtern des Abends. Ganz offen gibt der Nobelpreisträger im Gespräch mit Michael Naumann, einem der Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, zu, dass „die Erinnerung trügt“, die Geschichten, die da stehen, sich mit jedem Erzählen verändern. Das tut der Faszination des Abends keinen Abbruch, vor allem nicht, weil Grass betont, die Geschichten könnten so erlebt worden sein. Sie werden durch Grass‘ Stimme lebendig: Beim Vorlesen von drei Episoden aus seiner Jugend zeichnet Grass ein Bild seiner Erlebnisse und wirkt plötzlich viel jünger als in dem Augenblick, in welchem er die Bühne betrat.

Besonders viele Lacher erntet Grass im ausverkauften Schauspiel vom Publikum bei der zweiten verlesenen Episode: Wie er in der Kriegsgefangenschaft von einem Koch gelernt habe, ein Schwein zu schlachten, auszubluten und zu Hausmannskost zu verarbeitet – theoretisch, denn ein echtes Schwein war nicht zu haben. Fast banal schildert er jeden Schritt, der nötig ist, um eine Wurst herzustellen, bei seiner Schilderung fällt gar nicht auf, dass es eigentlich gar nicht um das Schwein geht: Der theoretische Kochkurs beschreibt den Hunger, erklärt Grass später im Gespräch.

Auf die Debatten um sein Buch geht Grass nur am Rande ein – er betont, dass das Interview mit Frank Schirrmacher von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er über seine Jugend bei der Waffen-SS gesprochen hat, entgegen der Darstellung in vielen Medien kein Geständnis gewesen war. Die FAZ habe – genau wie viele andere Medien – Wochen vor dem Interview Ausgaben von Beim Häuten der Zwiebel gehabt.

Ein tieferes Eingehen auf die Vorwürfe über sein langes Schweigen zu seiner NS-Vergangenheit will das Publikum im ausverkauften Schauspiel wohl auch nicht. Zwischenrufe beschränken sich auf zustimmendes Murmeln. Auf die Lesung folgt ein langer Applaus, bevor der Saal fast fluchtartig verlassen wird: Im Foyer wolle Grass noch Bücher signieren – brav wie die Entenkinder stellen sich die Leser mit ihren Exemplaren von Beim Häuten der Zwiebel an.

(Constanze Kretzschmar)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.