Zornig, zotig, zärtlich

In „Zerwühlte Tage, Zerknitterte Nächte“ zeigt Volly Tanner seine Unlust, in der als eindimensional vorgegaukelten Welt mitzumachen

Man muß immer trunken sein. Darin liegt alles: das ist die einzige Frage. Um nicht die fürchterliche Bürde der Zeit zu spüren, die eure Schultern zerbricht und euch zu Boden drückt, müßt ihr Euch trunken machen ohn Unterlaß. Doch womit? Mit Wein, Poesie … wie es Euch gefällt. Doch macht euch trunken.
Charles Baudelaire: Der Spleen von Paris

Um Irritationen zu vermeiden, seien gleich zu Beginn alle relevanten Fakten genannt und das journalistische Heiligtum der sechs W-Fragen abgehakt. Wer?: Volly Tanner und Oliver Baglieri. Was?: Fotolyrixx. Wann & Wo?: Leipzig im Herbst 2006. Wie?: Prosaische Dichtung und Schwarz-Weiß-Fotografie im Hochglanzalbum. Warum?: Poesie braucht keine Begründung.

Vielleicht keine Lyrik – egal, was störts mich!
Mit Zerwühlte Tage, Zerknitterte Nächte stürzt sich Leipzigs Verbalradikaler in lyrische Gefilde. Kein unehrgeiziges Unterfangen, aber eigentlich auch kein Wunder, schließlich kleidet sich Volly Tanner seit je her ins Gewand des Tausendsassas. Lyrik habe, so meinte Martin Walser einmal, „die höchste Frequenz der deutschen Sprache“. Nun mag einem der Walser aus guten – hinreichenden wie notwendigen – Gründen völlig Schnurz sein. Dem ist allerdings darin zuzustimmen, dass es gerade die Dichtkunst ist, an der sich so viele Schreibende versuchen und jämmerlich scheitern. Volly Tanner ist dieses Schicksal erspart geblieben. Wortgewandt und -gewaltig fechtet er seinen „ganz privaten Kleinkrieg mit dieser Welt“ aus. Dabei verzichtet er – großer Pluspunkt – auf das Reimen gleich ganz. Seine Prosadichtungen kommen so mit schnörkelloser Offenheit daher, was ihrer Thematik durchaus angemessen ist: Der Band handelt von den Tatsachen des Lebens. In emotionalen Wechsellagen, hier lösen Zorn, Lethargie und Begehren einander ab, lotet Tanner das deutsche Isotop aus, schickt Verdammungsverse gen Leipzig-Lindenau und lokalisiert den alles aushebelnden, archimedischen Punkt auch mal zwischen den Beinen einer Frau. Aus den Zeilen schreit die Abscheu vor dem dominierenden Mittelmass, vor kleingeistiger Kulturhegemonie und den drögen wie austauschbaren Mantren eines „Wir sind…“ und „Du bist…“, weshalb vielfach der fromme Wunsch ertönt: Die können mich alle mal in Ruhe lassen. Aber auch leisere Zungen sprechen aus Tanners Versen, erzählen von zärtlichen, intimen Momenten, von körperlicher Nähe und Liebe, Ernüchtern und Enttäuschungen. Und eine Portion fröhlicher Hedonismus, die auf das Recht der persönlichen Eigenart, wie unartig sie auch sei, pocht.

Neben den Texten faszinieren im Buch Oliver Baglieris sinnlich-erotische Fotografien. Seine Inszenierungen des Models Nina Kresse dienen dabei weniger der Illustration, sondern stehen neben den Gedichten, konterkarieren diese zuweilen im weichmalerischem Hauch; ergänzen und lullen in Schönheit ein. Die schattierten Schlaglichter auf einem höchst ansehnlichen Körper verleihen den Buchseiten noch einmal eine andere Tiefe, stellen Einfassung und Rahmen für das eher lose Versebündel.

Es mag pathetisch klingen, Zerwühlte Tage, Zerknitterte Nächte ein Manifest zu nennen. Doch das ist es. Denn nur wenige werden das Buch zu schätzen wissen, weil sie hier erfahren, dass da auch noch jemand ist, der im alltäglichen Spiel der als eindimensional vorgegaukelten Welt keine Lust verspürt mitzumachen. Der einzige Wehrmutstropfen dieser berauschenden Lektüre ist der mitunter zu versucht spielerische Satz. Man kann einen Text auch Text sein lassen und muss beispielsweise das Wort „hüpfen“ nicht per rückwärtigem Salto ins Satzbild oder in die Fotografien werfen. Ein etwas klareres Layout hätte das Tüpfelchen auf dem I sein können für diesen dennoch trunken machenden Band. Und angesichts lausiger Zeiten, in denen sich die Welt als merkwürdiges Panoptikum zeigt, in dem mehr als weniger widerliche ProtagonistInnen ihre schmierigen Rollen geben, kommt einem Tanners Verdauungsrezept der konsequenten Verweigerung gar nicht so exotisch vor:
Ich werde ihnen zuschauen
Und mich dabei
Hin und wieder betrinken

Volly Tanner & Oliver Baglieri: Zerwühlte Tage, Zerknitterte Nächte
Edition PaperONE
Leipzig 2006
92 S. – 9,95 €
www.editionpaperone.de

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