Der schmerzende Zahn Russlands

In memoriam Anna Politkowskaja im Horns Erben – eine Gedenklesung

Am 7. Oktober letzten Jahres wurde die russische Journalistin im Fahrstuhl ihres Wohnhauses in Moskau ermordet, fünf gezielte Schüsse töteten sie sofort. Vollständig aufgeklärt wurde die Tat bisher nicht – und es ist davon auszugehen, dass die wahren Verantwortlichen niemals bekannt oder gar verurteilt werden. Sicher ist, dass Politkowskaja genügend Feinde hatte, aus den einflussreichsten Kreisen Russlands stammend. Die Journalistin, Autorin und Menschenrechtsaktivistin schrieb ungeschönt über die Gräueltaten in den Tschetschenienkriegen, deckte Korruption und katastrophale Zustände in Russland auf. Zeit ihres journalistischen Lebens war Politkowskaja Reglementierung, Zensur und Morddrohungen ausgesetzt, zuletzt überlebte sie 2004 einen Giftanschlag. Zum Verstummen hatte sie sich nie bringen lassen, bis zu ihrem Tod.

Um die Erinnerung an die Journalistin wach zu halten, die ihr Leben für die Freiheit der Meinung und eine lebendige Kritik in Russland riskierte, wurde auf Initiative der Peter-Weiss-Stiftung am 20. März weltweit gleichzeitig einunddirselben Texte Politkowskajas gelesen. Knapp 100 Institutionen und Veranstalter von Finnland bis Sudan beteiligten sich, Radiosender übertrugen die Lesung live.

Auch in Leipzig waren die Texte zu hören, im Mediencampus, in der Nikolaikirche und im Horns Erben. Die Initiative Leipzigs für Anna Politkowskaja hat beinahe Tradition: 2005 erhielt die Journalistin den „Preis für die Freiheit und die Zukunft der Medien“ der Medienstiftung. Sie wurde in Leipzig schon als kritisches Gewissen Russlands gesehen, bevor sie weltweit traurige Prominenz durch ihren Tod erfuhr. Dass sich nun gleich drei Veranstalter an der Aktion beteiligten, spricht für das immer noch rege Interesse der Stadt an Politkowskaja.
Nun also im Horns Erben: Dort las Hans Henrik Wöhler die Texte Machkety. Ein Konzentrationslager mit kommerziellem Einschlag und Sonderoperation Sjasikow, in denen Politkowskaja Tschetschenien während der Kriege und danach beschreibt, in denen sie die Manipulation und Skrupellosigkeit der russischen und tschetschenischen Politik aufzeigt. Mit schnörkelloser Drastik erzählt sie von der Brutalität, mit der gegen so genannte „Rebellen“ vorgegangen wird, zeigt sie die absurden Mechanismen der Tschetschenien-Politik auf. Politkowskajas Texte hangeln sich stets an offenkundigen, mit unglaublicher Präzision recherchierten Fakten entlang. Daneben, und das machte die Lesung so bestürzend, sind sie stark von persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen geprägt. Gerade weil Politkowskaja ihre Empörung über das System, manchmal auch ihre Verzweiflung in aller Ausweglosigkeit darlegt, nehmen uns die Texte die Luft.

Das Namengewirr der involvierten Politiker und Funktionäre, Politkowskajas minuziöse Darstellung der politischen Zusammenhänge irritieren manchmal nicht nur den Zuschauer – auch Hans Henrik Wöhler scheint bisweilen verwirrt. Dem Sprecher ist die Wahl des Textes nicht anzulasten, der Verlag hatte nur diesen freigegeben. Aber dies entspricht eben auch Politkowskajas Arbeit, denn ihr ging es nie nur darum, Zustände aufzuzeigen. Sie wollte immer auch den Bodensatz aufwühlen, die Verantwortlichen hervorzerren und an den Pranger stellen – vermutlich wurde gerade dies ihr zum Verhängnis. Die gelesenen Texte zeigen diese beiden Seiten der Politkowskaja: die unnachgiebige Journalistin und die brillante Autorin.

Obgleich die Fragen nach den Verantwortlichen leiser werden, obwohl die Empörung verblasst: Der Mord an Anna Politkowskaja ist zum Mahnmal für die Meinungsfreiheit geworden. Die Lesung hat dies erneut ins Bewusstsein gerufen, und ihre Globalität zeigt die Relevanz, die das Exempel Politkowskaja weltweit hat. Damit das Mahnen nicht abreißt, die Fragen nicht verstummen. Anna Politkowskaja ist der schmerzende, aus einer Stille plötzlich quälend pochende Zahn, der das Erinnern wach hält.

Erinnerung an Anna Politkowskaja – Gedenklesung

Horns Erben
Sprecher: Hans Henrik Wöhler
20. März 2007
www.peter-weiss-stiftung.de

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