Bodenständige Unterhaltung: Tom Johnson „Riemannoper” (Ingo Rekatzky)

Tom Johnson: Riemannoper
Kellertheater der Oper Leipzig
Musikalische Leitung & Klavier: Karl-Heinz Müller
Inszenierung: Axel Köhler
Premiere: 28. Februar 2007
www.oper-leipzig.de


Die Musiktheorie geistert durchs Kellertheater –
Axel Köhlers Inszenierung der Riemannoper als musikalisches Unterhaltungsprogramm der bodenständigeren Art

Seit Jahresbeginn verkündet selbstbewusst ein Banner an der Frontfassade des Leipziger Opernhauses, dass man der unausweichlichen Restaurierung der Zuschauerbereiche trotze: Denn obwohl Stadt und Theaterleitung aus verschiedenen Gründen kein dauerhaftes Interim finden konnten, das auch nur annähernd die Kapazität der in die Jahre gekommenen Spielstätte erreicht, zwingt der Baulärm die Musen keineswegs zum Schweigen, bis – vorausgesetzt, es läuft alles glatt – im November 2007 die Oper feierlich wiedereröffnet wird. Vielmehr verspricht die aktuelle Saison zahlreiche interessante Produktionen, da – nach Aufführungen publikumswirksamer
Oper(ette)n in der ersten Spielzeithälfte – während der Schließphase nicht nur einige Werke jenseits des etablierten Repertoires präsentiert, sondern auch kleinere Spielstätten aus ihrem Schattendasein befreit werden: Neben der künstlerisch überaus erfolgreichen Inszenierung von Benjamin Brittens Kammeroper The Turn of the Screw in der Musikalischen Komödie und einigen konzertanten Aufführungen im Gewandhaus bietet die Oper Leipzig zahlreiche Veranstaltungen auf der Drehscheibe und im Kellertheater, die einen ungewohnten Einblick in den Opernbetrieb versprechen, sodass die Saison 06/07 mit rund 25 Produktionen trotz Schließphase des Haupthauses ausgesprochen vielseitig anmutet.

Dass hierbei das Potential der Leipziger Oper jedoch keinesfalls vollständig ausgeschöpft werden kann und personaler Leerlauf nicht zu vermeiden ist, lässt sich aller ehrenwerten Ambitionen zum Trotz, den Spielbetrieb auch während der Sanierung aufrecht zu erhalten, nicht verhehlen. Was liegt daher also näher, als diese Zwangslage selbst zu thematisieren und ein – offensichtlich ob seiner künstlerischen Qualitäten – unterbeschäftigtes Quartett, das sich im ,wahren Leben‘ aus profunden, viel und gern besetzten Solisten der Oper und der Musikalischen Komödie zusammensetzt, zu einer Prüfung in ‚praktischer Musiktheorie‘ antreten zu lassen. Grundlage dieser ,Examination‘, deren erfolgreiches Absolvieren über ein weiteres Verbleiben im Ensemble entscheidet, ist – wie sollte es auch anders sein – selbstredend Hugo Riemanns 1882 erstmals in Leipzig erschienenes Standardwerk „Musik-Lexikon“, das sich in zahlreichen späteren Auflagen schlicht als „Der Riemann“ im Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit verankert hat. Mit Tom Johnsons 1988 uraufgeführter Riemannoper, die der Hallenser Countertenor Axel Köhler nun im Kellertheater des Opernhauses inszeniert hat, wird also quasi ein Stück Leipziger Musikgeschichte veranschaulicht und der ehrwürdige Riemann – nicht zuletzt durch die aufgestellte Marmorbüste – in ironischer Weise zum Säulenheiligen der Musikwissenschaft verklärt. Allerdings hat Johnson, ein individueller Vertreter der so genannten „Minimal Music“, in seiner kommerziell erfolgreichsten Komposition keinesfalls das Leben des verdienten Musiktheoretikers und -praktikers thematisiert. Stattdessen bedient er sich schlicht aus dessen ,Opus magnum‘ und vertont einzelne Lemmata des Riemann-Lexikons, in denen die Stimmfächer der auftretenden Sänger – Primadonna assoluta, Primadonna, Tenor und Bariton – sowie einzelne solistische Gesangsarten der vokalmusikalischen Gattungen theoretisch abgehandelt werden. Dass der Komponist mit den Konventionen des Genres, die im Titel „Riemannoper“ noch ironisch hervorgehoben werden, bricht, stellt den artifiziellen Reiz seines Werkes dar: Johnson kommt ohne großen instrumentalen Apparat aus und begnügt sich mit einem Pianisten (Solorepetitor Karl-Heinz Müller genießt es sichtlich, nicht nur musikalisch, sondern auch spielerisch in das Geschehen eingreifen zu dürfen), was nicht nur die kompositorischen Strukturen in äußerster Transparenz erkennen lässt, sondern auch selbst dann Aufführungen des Werkes garantiert, wenn – wie jüngst in Leipzig – sämtliche Orchestermusiker auf Tournee weilen. Der größte Bruch mit der an die Gattung Oper gerichteten Erwartungshaltung liegt aber darin, dass Johnson keinerlei Handlung im Sinne einer dramatischen Entwicklung vorgibt, sondern dem jeweiligen Produktionsteam, in dessen Ermessen und Einfallsreichtum es liegt, ob und wie die musikalisch dargebotenen Theorietexte mit Leben gefüllt werden, bei der szenischen Realisation völlige Freiheit lässt.

Diesbezüglich scheint die Oper Leipzig über gute Voraussetzungen zu verfügen, da Regisseur Köhler stimmfachbedingt aufs Beste mit den normpoetischen und – offensichtlich damals wie heute vorherrschenden – aufführungspraktischen Charakteristika der älteren, im Zentrum des Riemann-Lexikons stehenden Opern- und Oratoriengeschichte vertraut ist, darüber hinaus über ein spielerisch versiertes, Mut zur Selbstironie aufbringendes Solistenquartett verfügt. Bereits die Auftrittsnummern der vier fiktiven, bewusst inhomogenen ,Gesangsstars‘, die ungeachtet ihrer theoretischen Wissenslücken und praktischen Unzulänglichkeiten den Nimbus der eigenen unanfechtbaren Künstlerschaft ostentativ zu Markte tragen, verspricht eine parodistische Betrachtung weit verbreiteter, unausrottbarer Klischees und Treppenwitze aus dem Opernalltag, die trotz ihrer Überhöhung wohl stets auch ein Fünkchen Wahrheit in sich bergen: Geblendet von Schönheit und Glanz der [eigenen] Stimme bis zum c“ (Hugo Riemann: Musiklexikon, Sachteil, S. 947) sowie der – zumindest von ihm selbst empfundenen – Unwiderstehlichkeit versucht der Tenor (Dan Karlström), mit stereotypen Bewegungen, die ihm trotz oder gerade wegen des Widerspruchs zum musikalischen Duktus ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit gewähren, nicht nur direkt um die Gunst des Publikums, sondern auch jene seiner weiblichen Bühnenpartner zu buhlen. Dass er in seiner Bravourarie, hinter deren musikalischen Glanz wie so oft die dramatische Intention deutlich abfällt, selbst dann seine Textprobleme nicht verhehlen kann, wenn ihm das Libretto in einer Endlosschleife nur ein einziges Wort, nämlich Aria, vorgibt, entspricht den gängigen Tenorwitzen. Ihm gegenüber darf der Bariton (Roland Schubert) als die schönste aller männlichen Stimmgattungen (Hugo Riemann: Musiklexikon, Sachteil, S. 82f.) bierernst den Impetus der eigenen heldenhaften Würde, aber mit voluminöser Stimme und nicht minder umfangreicher Leibesfülle auch den Affekten Ausdruck verleihen, die durch seinen Antipoden ebenso wie – nach anfänglichem Gefallen – durch das unermüdliche Werben seiner lüsternen Kolleginnen in ihm hervorgerufen werden. Jener sprichwörtliche Primadonnenstreit bestätigt wiederum jenes sich hartnäckig haltende Gerücht, dass für eine erfolgreiche Karriere im (Musik-)Theater nicht das Talent, sondern einzig und allein gute Beziehungen und gewisse Qualitäten einer anderen Art ausschlaggebend sind: Ohne Zweifel wäre die Primadonna (Angela Mehling) die unangefochtene Diva am Opernhimmel, wenn ihr nicht in der italienischen Oper seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Primadonna assoluta (Maria Fleischhauer) gegenübergestellt worden wäre (vgl. Hugo Riemann: Musiklexikon, Sachteil, S. 748). Angesichts dieser weitaus jüngeren Konkurrenz zwangsweise als mütterlicher Typ in die zweite Reihe verdammt, ist sie in ihrem Bestreben, den eigenen künstlerischen Ambitionen gerecht zu werden, derart verunsichert, dass ihr Auftritt mitunter zu einem Solo für den Souffleur gerät, wohingegen sich die Primadonna assoluta von vornherein ganz und gar auf den effektiven Einsatz ihrer weiblichen Reize verlässt. Recht schnell wird deutlich, dass der Ensemblegedanke hinter der eigenen Eitelkeit stets zurücktritt und alle vier Solisten vor keinem Mittel zurückscheuen, um im Rampenlicht eine gute, von den Kontrahenten möglichst nicht zu übertreffende Figur zu machen.

Allein diese Figurenkonstellation verspricht eine amüsant-kurzweilige Auseinandersetzung mit der historischen Musiktheorie, die zwar nicht unbedingt durch ein Höchstmaß an musikalischer Perfektion und Raffinesse, wohl aber durch einen meist doppelbödigen, zuweilen auch halbseidenen Witz besticht, da bereits das Zusammenspiel aus dem vertonten „Riemann“, dessen Artikel durch die antiquierte Sprache sowie die arg subjektiven Wertungen zumindest vom heutigen Standpunkt aus ein wenig verstaubt wirken, und deren szenischer Gestaltung ein enormes ironisches Potential in sich birgt. Dass bei dieser Reise durch die Musik- und Wissenschaftsgeschichte ein ,Roter Faden‘ nicht unmittelbar zutage tritt, wiegt somit auch nicht weiter schwer, ja könnte mitunter durch eine gewisse dadaistisch-experimentelle Qualität gar den Reiz der Riemannoper ausmachen. Nichtsdestotrotz hat Johnson sein Werk mit einem „Leitmotiv“ durchwoben, das just dann von den Sängern angekündigt wird, wenn der Bruch zwischen den einzelnen Abhandlungen allzu offensichtlich ist, und als Hugo Riemann persönlich im wahrsten Sinne des Wortes durch das Kellertheater geistert. Doch während es durchaus amüsiert, wie der Wiedergänger alle Rivalitäten zwischen den Sängern beseitigt und sie angesichts der latenten Gefahr nicht nur in der Bühnenrampe einen Verbündeten wähnen, sondern sich auch miteinander solidarisieren, so wird durch den Auftritt des Geistes selbst, der anfangs mit weißem Bettlaken als klischeehaft beladenes Theatergespenst, nach der Pause gar als beseelte Statue erscheint, die Grenze zwischen intelligent-subtiler Ironie und derb-bodenständiger Unterhaltung erheblich tangiert. Vollends in die Niederungen des Klamauks begibt sich die Inszenierung allerdings mit den vom Tonband eingespielten Kommentaren der Prüfungskommission und des Inspizienten (beide von Axel Köhler persönlich eingesprochen), die trotz ihres allzu bemühten dialektalen Witzes ihre Publikumswirksamkeit zwar keinesfalls verfehlen, sich aber so gar nicht mit der meist gewahrten subtilen Komik der musikalischen Nummern zu einem Ganzen fügen mögen. Spätestens wenn das wutentbrannte Quartett im Finale erfährt, dass es die Prüfung nicht bestanden hat und in einem solidarischen Racheakt statt des Prüfers versehentlich den Inspizienten erschießt, ist man geneigt, sich einer vorangegangenen Ermahnung aus dem Off, den Unsinn auf der Bühne zu lassen und ein wenig die Ernsthaftigkeit zu wahren, vorbehaltlos anzuschließen.

Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen. So bleibt ein kurzweilig-amüsantes musikalisches Unterhaltungsprogramm, das sein Potential zu einer feinsinnig-ironischen Komik zugunsten der bodenständigen Unterhaltung nicht vollends auszuschöpfen vermag. Dass auch dieser etwas andere Opernabend als Ergänzung zum Spielplan durchaus seine Berechtigung hat, ja vom Publikum offensichtlich gewünscht wird, beweist der lautstarke Schlussapplaus im bis auf den letzten Platz gefüllten Kellertheater. Ob die Oper Leipzig während der mehrmonatigen Sanierungsphase ihrer Hauptspielstätte allerdings gerade mit der Riemannoper ihre Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung behaupten kann, bleibt jedoch fraglich.

(Ingo Rekatzky)

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