Kunst im morbiden Gehäuse: Der Lindenfels Westflügel spielt wieder auf (Tobias Prüwer)

Vernissage & Spleen im Lindenfels Westflügel
Werke von Rosemary Hogarth & Nadja Bournonville
Klavierbegleitung: Ayako Tanaka
Im Anschluß: Spleen
Figurentheater Wilde & Vogel
Regie: Hendrik Mannes
Spiel: Michael Vogel
Musik: Charlotte Wilde
9. Mai 2007
www.westfluegel.de


Kunst im morbiden Gehäuse: Der Lindenfels Westflügel spielt wieder auf

…weil im Schaun mein Auge neue Kraft fand
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie

„Der Lindenfels Westflügel ist geöffnet!“ – Dieser Satz lässt alle TheaterfreundInnen frohlocken. Denn das Zentrum für Figurentheater hat sich bereits ein begeistertes Publikum erspielt. Dem Zahn der Zeit entrissen, wird dem Jugendstilballhaus, das die meiste Zeit als Fabrikgebäude diente, auch in diesem Jahr kulturelles Leben eingehaucht. Das ist mit der vergangenen, ersten Saison wunderbar geglückt. Nach der Winterpause hat am ersten Mai der Sommerspielplan 2007 begonnen und nun mit ihrer ersten Vernissage die neue Reihe Bilder & Kunst im Westflügel ihren Start genommen.

Zwei Künstlerinnen – beide Absolventinnen der Glasgow School of Art – ließen sich vom Gebäude inspirieren und geben auf je eigene Art dessen brüchig-maroden Charme wieder. Die Installationen von Nadja Bournonville nutzen die Nischen und Winkel, Mauerdurchbrüche und Ritzen der Räume und erscheinen wie aus den Wänden herauswachsende Gebilde oder erinnern als Polaroidarrangement an die Flüchtigkeit des Augenblicks. Anderes bezeugt eine leise Ironie: In einer versteckten Ecke hängt ein Dutzend Hände von der Decke, während eine am Boden stehende Ledertasche ein „Carry me“ säuselt. Rosemary Hogarth zeigt Malerei und graphische Arbeiten. Auf großflächigen Bildern und in Miniaturen und Fragmenten, zu Collagen angeordnet, tummeln sich groteske Figuren, verrenken sich traurige Gesichter, glotzen fratzenartige Masken. Einige dieser Wesen könnten direkt Spleen entsprungen sein, welches im Anschluss an die Ausstellungseröffnung gespielt wird. Als erste eigene Westflügelinszenierung feierte das Stück vom Figurentheater Wilde & Vogel (Regie: Hendrik Mannes) im vergangen Herbst seine Uraufführung. Die Adaption von Charles Baudelaires Prosadichtungen Der Spleen von Paris umkreist den Alltag einfacher Großstadtmenschen, erweckt eindrucksvolle Miniaturen, in denen Ausgeliefertsein zu den Mitmenschen und die wahllose Erfahrung von Lebenslust und -Leid als Mengelage vielstimmiger Dissonanzen in Szene gesetzt werden. Auch hier ist Zerfall das Grundmotiv, weshalb sich Stück und Ausstellung auf phantastische Art und Weise kontrastieren und ergänzen, und dies in einem baulich-ästhetischen Rahmen, der nicht weniger morbid ist.

Der Westflügel-Auftakt ist gelungen – die ersten Veranstaltungen waren gut besucht – und das alte Ballhaus lädt wieder einen ganzen Sommer zu Entdeckungen ein, welche Geist und Sinne schärfen und die Sehgewohnheiten trainieren. Unter dem Motto „Gegenstimmen“ sind zum Themenschwerpunkt Musik und Theater im Mai noch zwei Veranstaltungen zu erleben. Mit Toccata übersetzen Wilde & Vogel Kompositionen und Tagebuchtexte von Robert Schumann in das Medium Figurentheater und lassen im Spiel von Geist und Wahn das Brüchige der Identitäten hervortreten. Und im familienfreundlichen Musiktheater Swiftli spielt den Hard Time Blues erzählt Peter Rinderknecht von den Höhen und Tiefen des Musizierendenalltags. Überdies künden die kommenden Monate von einer anregenden wie sehenswerten Theatersaison: Da locken beispielsweise die Deutschlandderni?re von Re:Frankenstein mit Neville Tranter (13. Juni), im Juli das Festival für japanisches Theater OHAYÔ, JAPAN! und nicht zuletzt weitere Voraufführungen des King Lear, in dessen Werden und Gedeihen als work in progress das Publikum Einblick erhält. Der Westflügel macht auch in diesem Jahr von sich reden, und man kann gespannt sein, welche neuen Spuren er mit der Zeit in Leipzigs Kulturleben einschreiben wird.

(Tobias Prüwer)

Zur ausführlichen Rezension von Spleen:

28.09.2006
Die Moderne als Zerfall: Das Figurentheater Wilde & Vogel inszeniert Baudelaire (Tobias Prüwer)

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