Welttheater im Kammerspielformat: „Geschichte vom Soldaten” & „Des Teufels Geiger” (Ingo Rekatzky)

Geschichte vom Soldaten & Des Teufels Geiger (A Fiddler’s Tale)
Gastspiel Merlin Ensemble Wien
Oper Leipzig, Drehscheibe
Regie: Hermann Beil
Violine: Martin Walch
Kontrabass: Lutz Schumacher
Klarinette: Haruhi Tanaka
Fagott: Allen Smith
Trompete: Stefan Ennemoser
Posaune: Otmar Gaiswinkler
Schlagzeug: Klaus Reda
Erzähler: Manfred Karge
28. & 29. April 2000


Welttheater im Kammerspielformat – Manfred Karge und das Merlin Ensemble Wien nehmen in Strawinskys Geschichte vom Soldaten und Wynton Marsalis‘ Des Teufels Geiger das Publikum mit auf ihre Reise durch die Welt(en)

Bereits die unprätentiös gestaltete Ankündigung in der Saisonvorschau lässt vermuten, dass es sich um einen raren Geheimtipp im Leipziger Opernspielplan handelt: Am letzten Aprilwochenende präsentiert die Theaterlegende Manfred Karge zusammen mit dem in kammermusikalischen Experimenten versierten Merlin Ensemble Wien auf der Drehscheibe des Opernhauses zuerst Igor Strawinskys Geschichte vom Soldaten, am darauf folgenden Tag dann deren moderne Paraphrasierung durch den Jazz-Trompeter Wynton Marsalis, zu der Karge unter dem Titel Des Teufels Geiger einen neuen, den Pakt des Geigers mit dem Teufel auf recht zeitgenössische Weise erzählenden Text verfasst hat. Dass dies ungeachtet einer kurzfristig ins Leben gerufenen 5-?-Aktion allerdings ein Geheimtipp im wahrsten Sinne geblieben ist und die Tribüne von nur jeweils 50 Zuschauern bevölkert wird, ist nicht zuletzt wegen der Einzigartigkeit beider Abende ausgesprochen bedauerlich. Mag sein, dass angesichts der sommerlichen Temperaturen die freie Natur mehr lockt als das dunkle Bühnenhaus, aber allein die Tatsache, dass beide Vorstellungen der als Saisonhöhepunkt angekündigten und wegen ihrer Starbesetzung entsprechend umworbenen Wagner-Gala im Gewandhaus mit jenem Gastspiel zusammenfallen, wird ihr Übriges getan haben, der Leipziger Oper das eigene Publikum streitig zu machen. Doch während im Zuge der Sanierung des Opernhauses verstärkt konzertante Aufführungen auf der anderen Seite des Augustusplatzes angesetzt werden, die zweifelsohne auf hohem Niveau, aber losgelöst vom theatralen Kontext musikalische Gusto-Stückchen auftischen, erweist sich die Not, ohne großen bühnentechnischen Apparat auskommen zu müssen, in dem Strawinsky / Marsalis-Projekt als allergrößte Tugend und lässt deutlich den Wunsch reifen, dass die Drehscheibe auch nach Wiedereröffnung des Opernhauses als Kammerbühne für besondere Musiktheaterprojekte erhalten bleibt.

Uraufgeführt als Histoire du soldat am 28. September 1918 in Lausanne haben Strawinsky und sein auf Motive russischer Märchen zurückgreifender Librettist Charles Ferdinand Ramuz mittels des kammermusikalischen Rahmens und der kleinen Besetzung – ursprünglich sind lediglich sieben Musiker, ein Erzähler, zwei Tänzer und eine Schauspielerin vorgesehen – ein Stück ,armes Musiktheater‘ verwirklichen wollen, das nicht auf die großen Opernhäuser angewiesen ist, sondern auch ohne größeren technischen Aufwand von Wanderbühnen gespielt werden kann. An eben diese uralte Tradition der fahrenden Komödianten scheint das zweiteilige Projekt, das vom langjährigen Peymann-Dramaturgen und musikalisch-feinsinnigen Wortinterpreten Hermann Beil inszeniert wurde, mit zeitgenössischen Mitteln anzuknüpfen, kommt dabei aber noch mit einem geringeren szenischen Aufwand aus, als Komponist und Librettist einst verlangt haben: Einzig ein kleiner, etwas ramponierter Beistelltisch, der samt dazugehörendem Stuhl dem Erzähler als Lesepult dient, kündet umkränzt von den Pulten der Musiker auf dem erhöhten Podium von den bevorstehenden Aufführungen. Illusorischem Maschinenzauber oder anderen inszenatorischen Effekten wird hier kein Raum zugestanden, lediglich eine bunt leuchtende Lampiongirlande vor dem schlicht weißen Rückprospekt scheint die kleine Bretterbühne ein wenig der Realität zu entrücken. Doch bereits der bewusst ostentative, mit Intonationsproben untermalte Einzug der Akteure lässt keinen Zweifel daran, dass dem Hier und Jetzt an beiden Abenden mit einfachsten, dem Theater ureigenen Mitteln entflohen wird: Auf einen beiläufigen Wink verstummt das Ton-Wirrwarr und Karge schlüpft in die Rolle des Erzählers, der hier die anderen Figuren ersetzt, sie aber nichtsdestotrotz in der Imagination erscheinen lässt, und präsentiert die Geschichte des folgenschweren Handels zwischen dem Soldaten auf Heimaturlaub und dem Teufel. Ein Buch, das er für seine alte Geige erhalten hat, verhilft ihm zwar zu Reichtum und Anerkennung, entfremdet ihn aber auch gleichzeitig von der Welt. Aus der einen Nacht, die er bei dem Unbekannten verbringt, werden drei Jahre, weder seine Mutter noch seine Braut erkennen den Soldaten, der nun bemerkt, wem er seine Seele verschrieben hat. Durch eine List gelangt er jedoch wieder in den Besitz der Geige und kann mit seinem Spiel die kranke Prinzessin heilen, die er darauf zur Frau erhält. Der Teufel tobt und scheint geschlagen, bis der Soldat ihn ein weiteres Mal herausfordert.

Beinahe wie ein Moritatensänger, der auf die uralte Kunst des schauspielerischen Erzählens zurückgreift, verleiht Karge von seinem Pult aus nicht nur der Geschichte, sondern auch den Figuren auf eine höchst sinnliche Weise Gestalt, wahrt aber allein durch seinen unverkennbaren manieristisch-musikalischen Sprachduktus und den etwas spöttisch wirkenden Blick eine ironische Distanz zum eigenen Spiel, das in eine stete, sich gegenseitig kommentierende Interaktion mit den Musikern tritt. Die Fiktionalität des Bühnengeschehens keinesfalls verhehlend, ja mitunter gar direkt thematisierend genügt eine leichte Modulation der Stimme, eine kaum wahrnehmbare mimische Wandlung oder eine minimale Geste, um das Publikum mit auf eine imaginative Reise durch die Welten zu nehmen, ungeachtet der Tatsache, dass es natürlich ebenso wie die Akteure die ganze Zeit am angestammten Platz verharrt. Wenn dann am Ende jener Geschichte vom Soldaten die Rufe der Prinzessin ungehört im Bühnenturm verhallen, da ihr Liebster schon längst dem Bann des Teufels verfangen ist, stellt sich – dem ideellen Lehrmeister zum Trotz – gerade wegen des nicht-illusionären, bewusst artifiziellen Anspruchs Rührung ein.

Entfaltet schon die Geschichte vom Soldaten in ihrer Reduktion auf das Wesentlichste eine stille poetische Kraft, die im kleinen Kammerspiel ein Stück großes Welttheater erahnen lässt, so mag sich der Reiz dieses Projektes dennoch erst vollends entfalten, wenn man beide Abende als komplementäres Ganzes betrachtet. Zwar haben Marsalis‘ zeitgenössische Arrangements der Kompositionen Strawinskys ebenso wie einige offensichtlich bewusst wiederholte Gesten in Karges Spiel einen hohen Wiedererkennungswert – so wurden Struktur und Folge der musikalischen Nummern beibehalten – aber nicht nur durch den deutlichen Rückgriff auf Elemente der amerikanischen Jazz- und Unterhaltungsmusik wirkt hier alles ganz anders: Während in der Geschichte vom Soldaten der Eindruck des Ersten Weltkrieges noch präsent ist, der Teufel also allein aufgrund der elementaren Not leichtes Spiel hat, den Soldaten zu einem Pakt zu verführen, so ist Manfred Karges Text Des Teufels Geiger zu Marsalis‘ Strawinsky-Paraphrase durch die oberflächliche Verschwendungssucht moderner Spaßgesellschaften gekennzeichnet. Gegenüber deren Reichtum, Ruhm und ewige Jugend versprechenden Hochglanzmagazinen nehmen sich diabolische Verführungskünste eher bescheiden aus, weshalb es nicht weiter verwundert, dass selbst der Teufel nur noch Außendienstmitarbeiter in dem – freilich entinfernalisierten – Dienstleistungsunternehmen Hölle ist. Eine alte Geige, so muss er von seinem Vorgesetzten erfahren, interessiere folglich nur noch aufgrund ihres antiquarischen Wertes als Kapitalanlage: Luxus, Organhandel und Immobilien, das seien die wahren Verführungen der neuen Zeit. Mit Müh und Not findet der Teufel einen Geiger, der für eine Wohlstand und leibliche Genüsse verheißende Reise durch die Welt – Petersplatz in Rom, Freudenhaus in Bangkok, Rüstungsbetrieb in Sachsen – zwar seinen höchsten Besitz, nämlich Geige, Herz und Mietvertrag, verschreibt, nach anfänglichem Gefallen jedoch alsbald erkennt, dass er auf Erden die wahre Hölle erlebt hat. Seinem Verführer, der ob dieser Einsicht die Erfüllung des Paktes einfordert, erweist sich der Musikant aber als gelehriger Schüler und entzieht ihm vor seinem Lebensende durch eine List den begehrten Pfand, sodass der genarrte Teufel in Ermangelung von Geige, Herz und Mietvertrag seine Anstellung im Unternehmen Hölle verliert: „Hart sind die Zeiten und kurios, da werden selbst die Teufel arbeitslos.“

Trostlose Aussichten, denen man zumindest für den Moment in der präsentierten schauspielerischen Erzählung entfliehen kann: Karge erhebt sich resigniert von seinem Pult, spannt bedächtig einen nicht vorhandenen Schirm auf und verlässt – gefolgt von den Musikern – durch den imaginären Regen das Podium. Langer herzlicher Beifall für eine Produktion, die in ihrer unaufdringlich subtilen Poesie Tragik und Komik zu vereinen weiß.

PS: Die nächste Gelegenheit, auf der Drehscheibe des Leipziger Opernhauses innovatives (Musik-)Theater zu erleben, bietet sich bereits anlässlich des diesjährigen Bachfestes, wenn Steffen Schleiermacher unter dem Titel Verlorene Schlachten der Liebe die Kammeroper des britischen Avantgardisten Peter Maxwell Davies Miss Donnithorne’s Maggot mit Claudio Monteverdis szenischer Kantate Il combattimento di Tancredi e Clorinda kombiniert. Bleibt nicht zuletzt angesichts der Etablierung der Drehscheibe als experimentellem Spielfeld zu hoffen, dass die drei Aufführungen am 15., 16. und 17. Juni auf ein größeres Publikumsinteresse stoßen.

(Ingo Rekatzky)

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