Deutschlandpremiere zum Bachfest: „Jason et Médée” nach Jean Georges Noverre (Jenny Lagaude)

Jason et Médée
Tragischer Tanz in neun Akten
Drehscheibe der Oper Leipzig
Choreographie: Ivo Cramer nach Jean Georges Noverre
Musik: Jean Joseph Rodolphe, arrangiert von Charles Farncombe
Kostüme: Dominique Delouche nach Louis-René Bocquet
Premiere: 9. Juni 2007


Ein buntes Stück Tanzgeschichte

Das diesjährige Leipziger Bachfest mit seinem Motto „Von Monteverdi zu Bach“ bot in seinem Programm neben konzertanten Highlights auch eine aufwendig ausgestattete Ballett-Inszenierung am Opernhaus Leipzig: Pünktlich zum musikalischen Festival-Höhepunkt des Jahres überraschte man das Publikum mit der Deutschlandpremiere der rekonstruierten Fassung von Jason et Médée.

Die Choreographie des Franzosen Jean Georges Noverres, einem Zeitgenossen Bachs, erlebte ihre erste Aufführung bereits 1763 am Stuttgarter Hoftheater und wurde in den Folgejahren mehrmals variiert und erweitert. Noverres Bearbeitung des antiken Medea-Stoffes veranschaulicht seine neue Auffassung des Balletts als einem getanzten Drama. Der 1727-1810 lebende französische Tänzer und Choreograph gilt darum heute als Wegbereiter des Handlungsballetts: Der gesteigerte Hang des Barocktanzes zu technischer Perfektion und symmetrischer Figurenbildung schien ihm „kalt, langweilig und ohne Charakter“. Die Leidenschaften und Gefühle der Rollen sollten seiner Ansicht nach in den Vordergrund treten und pantomimische sowie schauspielerische Qualitäten der Tänzer stärker zum Tragen kommen, so dass die Zuschauer nicht nur auf der Ebene sinnlicher Reize angesprochen, sondern auch emotional bewegt werden.

Dass man die klassischen Dramen der Antike in Tanz umsetzte, entsprach dem Diktum des französischen Balletts jener Zeit. Für Noverres Anliegen konnte eine griechische Tragödie wie die Medea des Euripides freilich besonderen Anreiz bieten: Liebesleidenschaft, Eifersucht, Verzweiflung und Zorn sind Teil des Spektrums menschlicher Gefühle, welche die Geschichte der angesichts der Liebe ihres Gatten Jason zur Königstochter Kreusa vor Eifersucht rasenden und kindsmordenden Medea dem dramatischen Gestaltungswillen des Choreographen lieferte.

Die Musik hatte für Noverre bei der Entfaltung der im Ballett dargestellten Emotionen lediglich eine stützende Funktion. Jean Joseph Rodolphe, Hornist und Mitarbeiter Noverres am württembergischen Hof in Stuttgart, kam den Vorstellungen des Choreographen nach und komponierte die Musik zu Jason et Médée. Dabei blieb er den herkömmlichen musikalischen Mustern treu, löste sich jedoch von ihnen in den spannungsreichen Handlungsteilen hin zu einer freieren, dramatischeren Gestaltung.

Noverres Choreographie des Medea-Stoffes wurde durch seine Schüler tradiert und in Neuaufnahmen wieder aufgelegt; ihre szenischen Hinweise waren es vorrangig, die dem schwedischen Tänzer und Choreographen Ivo Cramer als Basis seiner Rekonstruktion des Barockballetts dienten, die er 1992 mit dem Ballet National du Rhin in Strasbourg auf die Bühne brachte. Rodolphes Musik zu Jason et Médée wurde von Charles Frederick Farncombe bearbeitet und der rekonstruierten Noverrschen Choreographie (wieder) angepasst.

Innerhalb eines Jahres hat das Leipziger Ballett Cramers Strasbourger Inszenierung von 1992 erarbeitet, und am 9. Juni 2007 erlebte die rekonstruierte Fassung von Jason et Médée an der hiesigen Oper ihre Deutschlandpremiere.

Die vor allem klassisch und neoklassisch geschulte Compagnie stellt sich der Herausforderung einer barocken Choreographie ohne Schwierigkeit, meistert die repräsentativ-strengen Tanzpassagen im Corps ebenso wie die anspruchsvolleren Solopartien. Das Potential der Leipziger Tänzer wird durch Jason et Médée freilich nicht ausgeschöpft. Fast scheint es, als haben das Orchester und der Chor mehr Feuer für die Herausforderungen des Ungewohnten: Unter Vincent de Kort brilliert das Gewandhausorchester und überträgt die Freude an Rodolphes Musik unmittelbar auf das Publikum, so dass das tänzerische Geschehen zeitweise aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt.

Der durch die Baumaßnahmen notwendig gewordene Spielortwechsel auf die so genannte „Drehscheibe“ wird für das Stück zu einem echten Gewinn, denn das Ambiente des Interims lässt den Zuschauer unwillkürlich an die Intimität eines Hoftheaters denken, für das Jason et Médée einst konzipiert wurde. Dazu trägt auch die volle Sicht auf Orchester und Chor vor der Bühne bei, die dank fehlendem Graben in unmittelbare Nähe der Zuschauer rücken.

Der relativ kleine Bühnenraum wird beherrscht von einem reduzierten Bühnenbild in kühlem, klassizistischem Stil, das dem Ballett mit seinen aufwendigen Kostümen einen unaufdringlichen Hintergrund bietet. Die auf Stichen überlieferten Originalkostüme von Louis-René Bocquet wurden von Dominique Delouche für die rekonstruierte Strasbourger Fassung neu interpretiert und dem populären Image eines verspielt-süßlichen Barock angepasst. Hier zeigt sich zugleich die Schwäche der Inszenierung: Bei allem gefälligen Augenschmaus, den die fantastische Kostümierung bietet, geht sie doch am Anspruch einer streng historischen Aufführung vorbei. Die Abkehr von der starren Maske zum Beispiel, die Noverre zugunsten lebendigen mimischen Ausdrucks verlangte, wird hier durch die Hintertür wieder eingeführt, wenn man die Gesichter maskenhaft in Gold oder Weiß schminkt. Der Anflug des Exotischen scheint oftmals mehr den Ansprüchen des romantischen Balletts und seiner Liebhaber geschuldet als der Aufführungspraxis des späten 18. Jahrhunderts. Man möchte fragen, wie hier Noverres Zeilen an Voltaire gelesen wurden: „Ich habe uns von Masken befreit, ich habe mich selbst der Verwendung von Kostümen verpflichtet, die wahrhaftiger und stilvoller sind“?

Schon in den ersten Szenen von Jason et Médée, die am Hof des korinthischen Königs Kreon spielen, scheint das Amüsant-Leichte die Oberhand zu haben: Die Gäste des Festmahles marschieren ein, Gladiatorenkämpfe werden aufgeführt und schrillbunte Narren zerren eine Puppe über die Bühne. So mancher Zuschauer wird zu diesem Zeitpunkt noch peinlich berührt mit dem Gedanken spielen, in der Pause die Vorstellung zu verlassen. Doch am Rande entspinnt sich die dramatische Handlung: Der geladene Jason und die Königstochter Kreusa verlieben sich, Jasons Gattin Medea wird von erster heftiger Eifersucht bewegt. Spätestens beim Tanz der Medea mit den Furien Eifersucht, Hass, Rache, Feuer, Eisen und Gift ist das vorzeitige Verlassen der Aufführung keine Alternative mehr: Tänzerisch und musikalisch wild bewegt scheint hier eine Art „Tanz auf dem Blocksberg“ stattzufinden, dessen Dramatik man sich nicht mehr entziehen kann. Von ähnlich bewegter Spannung ist das Liebesduett zwischen Jason und Kreusa, deren Eintracht von Medea gestört wird. Die Handlung entfaltet sich nun Schlag auf Schlag – leider jedoch auf Kosten der angestrebten Dramatik, denn die Wirkung der tödlichen Geschenke Medeas auf der Hochzeit von Jason und Kreusa geschieht so schnell, dass man ihrer kaum gewahr wird. Ähnlich der Mord Medeas an den gemeinsamen Kindern, die mit dem letzten greifbaren Mittel ihren treulosen Gatten zu treffen und ihm sein neues Glück zu vergällen sucht – er wird zur Nebensache angesichts des imposanten Drachenfluges der Prinzessin von Kolchis am Himmel über den triumphierenden Furien.

So siegt entgegen Noverres eigentlichem Anliegen am Ende doch das Äußerliche über die innere menschliche Bewegung. Was um 1763 den schwierigen Schritt über die Schwelle vom barocken Tanz zum Handlungsballett bedeutete, ist hier anschaulich geworden in einer leichten, unterhaltsamen, bunten Fantasiewelt, die mit der Darstellung der Spannungen und Leidenschaften der tragischen Figuren des Medea-Stoffes ringt.
Nach kurzweiligen eineinhalb Stunden bleibt jedoch nicht nur der schillernde Nachklang einer aufwendigen Ausstattung, sondern auch der Eindruck, an einem musikalischen Ereignis Teil gehabt und ein interessantes Kapitel Ballettgeschichte miterlebt zu haben.

(Jenny Lagaude)

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