Vom Ich ins Wir-Kollektiv

Zwölf Jahre lebte Veronika Radulovic in Vietnam. Nun hat sie ein Buch veröffentlicht über das Leben dort, ihre Arbeit und die Kunst

Wie schreibt man über ein Land, mit dem die meisten Menschen einen brutalen Krieg und sozialistische Einheitskultur verbinden? Man könnte etwas Politisches verfassen, eine Sozialismuskritik vielleicht oder eine Schmähschrift gegen die Amerikanisierung der Welt. Man könnte auch etwas Polemisches schreiben, einen Reisebericht etwa, der davon erzählt, dass die Menschen so arm sind und trotzdem glücklich. Man könnte aber auch, weil man selbst in dem Land gelebt und gearbeitet hat, Erlebnisse aus eigener Sicht schildern.

Veronika Radulovic ist den letzteren Weg gegangen. 1993 kam sie nach Vietnam, um ein „interkulturelles Projekt durchzuführen“, wie sie es selbst nennt. Vier Monate wollte sie bleiben. Zwölf Jahre sind daraus geworden. Nun hat die Künstlerin ein Buch veröffentlicht. „Eigentlich wollte ich über die Entwicklung der freien Kunstszene in Vietnam schreiben,“ sagt Radulovic. Doch schon nach der Lektüre des ersten Satzes wird dem Leser klar, dass er es hier mit etwas tun hat, was darüber hinausgeht. „Nichts ist schöner, als seine Erinnerungen mit jemandem zu teilen,“ schreibt die gebürtige Bielefelderin.

Kurze, detailliert beschriebene Rückblenden und Anekdoten ähneln Tagebuchaufzeichnungen. Sie sind jedoch nicht chronologisch geordnet, wie das in Tagebüchern meistens üblich ist. Veronika Radulovic hat in ganz eigener Dramaturgie ihre persönlichen Eindrücke festgehalten, Erlebnisse, Gesehenes, Ungesehenes, Dinge, die sie beeindruckt haben, die sie nicht verstanden hat. Und doch geht es keineswegs nur um sie selbst. Wer schon mal in einem Land war, in dem der kulturelle Codex vom eigenen so stark divergiert, dass man an seinem Verstand zweifelt, erlebt beim Lesen einen Aha-Effekt. Oft runden Fragen ihre sequenzartigen Erzählungen ab. Auch wenn sie meist unbeantwortet bleiben, sollen sie ihr helfen, das Unverstandene zu überbrücken. Wie komme ich, ein als Individuum lebender Mensch, in einem Wir-Kollektiv zurecht?

Schnell kommt die Frage auf, wie es die studierte Grafik-Designerin so lange aushält am Rand der Gesellschaft zu stehen, eine Exotin zu sein. Einmal erzählt sie von der Bekanntschaft mit einem vietnamesischen Künstler. Oft sitzt sie mit ihm im Café. Wenn sie gemeinsam durch die Stadt laufen, geht er 15 Meter vor ihr. „Es ist die Angst, mit einem Ausländer gesehen zu werden,“ erklärt Radulovic. Das setzt sich auch fort, als sie 1994 Dozentin an der Hochschule für Kunst in Hanoi wird. Das Gemurmel hinter ihrem Rücken bleibt ihr im Gedächtnis: „Haltet euch fern von ihr, sie hat schlechten Einfluss.“ Der ersten Ausstellung, in der sie Arbeiten vietnamesischer Künstler in Deutschland präsentiert, gibt sie den Titel Sicherheitsabstand. Nicht zu nah herankommen, nicht dazugehören. Hier steht eine persönliche Erfahrung für die Wahrnehmung einer ganzen Kultur. Sicherheitsabstand lautet auch der Titel ihres Buches.

Es ist ein steiniger Weg. Jahre braucht die damals 39-Jährige, um sich in dem südostasiatischen Land heimisch zu fühlen. Anfangs mietet sie ein kleines Hotelzimmer und beginnt sich die Lackmalerei beizubringen. „Ich wollte den Zusammenhang einer handwerklichen Technik und der Mentalität eines Volkes erarbeiten,“ schreibt sie. Unerträgliche, schwüle Hitze, Stromausfälle, Einsamkeit. Gekochter Wasserspinat und Nudelsuppe zum Frühstück gehören bald genauso zum Alltag, wie die zahlreichen deutsch-vietnamesischen Schnellbekanntschaften: „Hallo, guten Tag, ich war in Chemnitz – so wurde ich oft auf der Straße angesprochen,“ erinnert sie sich. Deutschsprachige Vietnamesen, die in Deutschland gelebt und gearbeitet haben sind in Hanoi zahlreich. Eine Möglichkeit mehr über Vietnam zu erfahren bieten sie ihr dennoch nicht. Eher erzählen sie ihr Geschichten aus der ehemaligen DDR. „So habe ich das andere Deutschland kennen gelernt,“ beschreibt Radulovic den guten Part an diesen Oberflächlichkeiten. Echte Freundschaften findet sie trotzdem.

Ihr interkulturelles Projekt sollte mit einer eigenen Ausstellung vier Monate nach ihrer Ankunft abgeschlossen sein. 24 Lacktafeln mit dem Motiv des roten Flusses in Hanoi, am Ende schreibt sie auf die Tafeln: „Wenn du über das Wasser gehen könntest, wohin würdest du gehen? Wenn du sprechen könntest, mit wem würdest du sprechen?“ Damit begibt sich die Künstlerin auf ungeebnetes Terrain. Es ist nicht üblich in Vietnam, wo die Kunst und die Nachrichten vom Staat kontrolliert werden, solch nachdenkliche Fragen zu stellen. Dass die Ausstellung genehmigt wurde, wundert sie genauso wie viele der zur Vernissage anwesenden Gäste. Sie hat ihren Platz schon gefunden, sich Respekt verschafft. Die Ausstellung wird ein Erfolg, Radulovic bleibt.

Ihr Buch über das Leben und Arbeiten in einer fremden Kultur gleicht einem großen Flickenteppich. Einzelne Alltagsszenen und plötzlich auftauchende Gedankenausbrüche stoßen aufeinander. Das große Ganze entsteht erst am Schluss. Fast polemisch wirken manchmal die emotionalen Ausschweifungen, diese kleinen Interpretationen des eigenen Innenlebens. Kurze, staccatoähnliche Sätze folgen langen verschachtelten Nebensatzkonstruktionen, als hätte sie ihre Gedanken aufgeschrieben ohne in dem Moment einer stilistischen Einheit nachzueifern. Genau das ist das Besondere an der Lektüre. Dieser persönliche Stil, der einen ganz persönlichen Blick auf eine fremde Welt wirft. Dadurch beschreibt sie nicht nur einen eigenen Lebensabschnitt, sondern erschafft auch ein aktuelles Bild der vietnamesischen Gesellschaft. Radulovic verschönt nicht und sie idealisiert nicht. Sie beschreibt die Dinge so, wie sie sie erlebt. Gleichzeitig wehrt sie sich gegen ein allzu leichtes Urteil ihres Lebensumfeldes.

So auch in der Kunst. „Schön fand ich diese Parteikunst nicht,“ sagt sie. Deshalb macht sie sich auf die Suche nach einer freien Szene. Und ehe sie sich versieht, ist sie mitten drin. Sie lernt Künstler kennen, die abweichen vom vorgegebenen Kurs. Minh Thanh, ihr treuer Freund und Wegbegleiter, ist einer von ihnen. Studenten fragen sie, ob es erlaubt sei Wörter auf Bilder zu schreiben. Und so wie sich die Wirtschaft immer weiter gen Westen öffnet, entwickelt sich auch die künstlerische Freiheit in Vietnam. Radulovic nimmt aktiv Teil an diesem Prozess. Ihr Buch ist ein dokumentarischer Abriss davon.

Es mangelt ein wenig an Bildmaterial in dem über 300 Seiten starken, dennoch handlichen Wälzer. Viele Beschreibungen künstlerischer Arbeiten bleiben Bilder im Kopf – eine Nichtvisualität, durch die sich der Fokus in Richtung Worte verschiebt. Und weil Sicherheitsabstand eben nicht nur ein Buch über Kunst ist und weniger durch perfektionierte Recherche als durch sprachliche Emotionalität überzeugt, ist das nicht unbedingt ein Nachteil.

Veronika Radulovic: Sicherheitsabstand – Vietnam, Kunst. Politik. Freundschaften
Kerber Verlag
Bielfeld 2007
400 S. – 19,90 €
www.kerber-verlag.de

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