Der Traum von der Herrschaftsfreiheit

Von wegen Ende der Geschichte: „Anarchie!“ kratzt an derSelbstgewissheit der etablierten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung

…wollen nicht alle Einzelnen unter den großen Gesellschaftsschirm zwingen, und sind ebenso wenig so töricht, um den Besitz der Schirme eine Keilerei zu beginnen, sondern wo es zweckmäßig ist, benutzen kleinere und größere Gesellschaften einen gemeinsamen Schirm, den man aber jederzeit entfernen kann; wer allein gehen will, habe seinen Schirm für sich, sofern er sich allein behaupten kann, und wer naß werden will, den zwingen wir nicht zur Trockenheit.
Gustav Landauer: Anarchismus – Sozialismus

Man munkelt, wir haben das Ende der Geschichte erreicht. Es heißt, nach dem Niedergang des Ostblockes ist der Streit der Ideologien beendet. Der Kapitalismus, oft mit Demokratie gleichgesetzt, hat gesiegt und sich als historische Wahrheit durchgesetzt. Die wenigen existierenden Mängel werden schon noch behoben werden. Eine Alternative gibt es schließlich nicht. Wirklich nicht? Horst Stowasser verneint und präsentiert in seinem Buch eine nicht junge Idee, menschliche Gesellschaften zu organisieren, die andere Wege geht: den Anarchismus.

Diese politische Philosophie treibt vielen das Grausen ins Gesicht. Einst von Lenin als Kinderkrankheit des Kommunismus bezeichnet, klebt am Anarchismus das Klischee von Bomben legenden Strolchen und allgemeinem Ausnahmezustand. Damit räumt Stowasser auf und informiert über die verschiedenen Strömungen. Er führt zunächst in ihren Eckpunkten übereinstimmende, anarchistische Ideen vor Augen, widmet sich dann in einem historischen Teil anarchistischen Projekten der Vergangenheit und lotet schließlich den status quo und zukünftig Mögliches aus.

Beim Wort genommen bedeutet „anarchistisch“: „herrschaftslos“. Im Zentrum der Idee stehen die individuelle Freiheit der Menschen, der Entwurf eines möglichst zwanglosen Zusammenlebens, die Kritik an Herrschafts- und Machtverhältnissen und das Bemühen um deren Auflösung. Zuerst ist hier natürlich an die Kritik des Staates zu denken, ein Konzept, das auch in den mildesten Farben stets Herrschaft beinhaltet. Da sind seine Apparate, Bürokratien und Zentralismen, die Hierarchien und Machtstrukturen ausbilden. Dazu gehört ferner die Kritik an den Besitzverhältnissen, an Patriarchat, ökonomischem Hamstern und ökologischem Kahlschlag. So nimmt Stowasser den als notwendige Fiktion unserem Wirtschaftssystem unterliegenden Traum vom unablässigen exponentiellen Wachstum aufs Korn. In seiner Kapitalismusschelte verfällt er allerdings nicht ins plumpe Anklagen einiger wenigen, „feinen Herren“. Er ist sich völlig im Klaren über die Komplexität gegenwärtiger Weltwirtschaft, in der man „die Bösen“ nicht per Fingerzeig ausmachen kann, sondern in komplizierten Verhältnissen die Verantwortlichkeiten vielfach verteilt sind. Dies ändert freilich an der Struktur der Ausbeutung nichts.

Zudem hinterfragt Stowasser den Demokratiebegriff, der dem Wortsinne nach entweder auf Anarchie abzielt oder leer ist. Denn entweder hat in einer „Herrschaft des Volkes“ jede und jeder gleich viel zu sagen, weshalb hier von Herrschaft nicht mehr die Rede sein kann, oder es herrschen eben doch nicht alle und der Begriff ist beschönigend. Auf unsere „westlichen Demokratien“ mit parlamentarischer Zentralverwaltung trifft Letzteres zu. Es gibt gewiss schlechtere Systeme, Mitbestimmung aller sieht anders aus. Wie sehr den vom WählerInnenwillen entbundenen politischen „RepräsentantInnen“ an dieser überhaupt gelegen ist, zeigen als illustre Beispiele die Argumente gegen Volksbegehren und -entscheide.

Die anarchistische Idee setzt auf Selbstvertretung statt Stellvertretung. Das allem zugrunde liegende Prinzip ist das der freien Vereinbarung. In freien, weil freiwillig assoziierten, Gruppen oder Gemeinschaften geht man bei gegenseitiger Anerkennung seinen Dingen nach, respektiert die Unterschiede in Wünschen und Bedürfnissen, und wer keine Lust mehr hat, kann diese verlassen. Denn diese sozialen Verbindungen sind jederzeit aufkündbar. Damit wird der Unterschied zu Kommunismus/Sozialismus deutlich, wo Freiheit als Zwangskollektivierung verstanden wird und Herrschaft nicht abgeschafft, sondern die Staatsmaschinerie an sich gerissen werden soll.
Demzufolge ist Anarchie nicht, wie gemeinhin angenommen, allgemeines Chaos, sondern stellt eine andere Form der Ordnung dar, nämlich Ordnung ohne Herrschaft. Diese mag nach heutigem Verständnis eine schwer Vorstellbare sein. Das spricht jedoch nicht für ihre Abwegigkeit, denn nicht viele Menschen haben sich vor zweihundert Jahren träumen lassen, dass der Parlamentarismus auch nur Wochen übersteht.

Dass die Vorstellung von zwangloser Selbstverwaltung gar nicht so utopisch ist, führt Stowasser im geschichtlichen Teil vor Augen. Beginnend bei herrschaftsfreien Frühkulturen und antiken Gesellschaften spannt er den historischen Bogen über Pariser Kommune, ukrainische Bauernguerilla und spanische Revolution zu den Einflüssen in den 68- und Graswurzelbewegungen bis hin in die Gegenwart. Dabei kommt es nicht darauf an, überall lupenreinen Anarchismus am Werk zu beobachten und rückblickend das Label „(A)“ in der Geschichte zu verteilen, sondern zu zeigen, wie in der Praxis selbst verwaltete Strukturen funktioniert haben, die der Idee nach anarchistisch sind. Eine Liste aufschlussreicher, wenn auch Episoden bleibender Ereignisse. Besonders informativ ist die übersichtliche Darstellung der verschiedenen Positionen innerhalb des anarchistischen Denkens, die anhand wichtiger VertreterInnen skizziert werden. Wenn allerdings Stowasser bezüglich matriarchaler Gesellschaften über eine „weibliche Ethik“ und deren kreatives Schöpfertum spekuliert, bewegt er sich in biologistischen Fahrwassern, die er besser vermieden hätte. Und warum er die anatolische Siedlung Catal Hüyk betreffend, die nach allen archäologischen Erkenntnissen ohne herrschende Kaste über Jahrhunderte ein friedliches Leben beherbergte, das Matriarchat bemüht, bleibt sein Geheimnis. Das trübt die Freude am Buch allerdings nicht.

In den Schlusskapiteln widmet sich Stowasser der Analyse der Gegenwart anarchistischer Bewegungen und erwägt Perspektiven für die Zukunft. Selbstverständlich gibt er weder Fahrplan noch Zehnpunkteprogramm für eine anarchistische Revolution vor. Das wäre vermessen, denn etwas Komplexes wie die Gesellschaft lässt sich gar nicht so einfach berechnen und gezielt verändern, wie es Nationalökonomen und Parteipolitiker gern suggerieren. Anarchistische Projekte müssten, so seine Hoffnung, in der Rückeroberung des Alltags als Gegenentwürfe aus der gegenwärtigen Gesellschaft erwachsen, sich einwurzeln, wild wuchern und viele Menschen begeistern. So entstehe eine Vielfalt der kleinen Einheiten, die frei wählbar sind und jenseits der Bürgerverwahranstalt Staat stehen. Das sei natürlich nicht zu erreichen – und hier spart Stowasser nicht mit anarchistischer Selbstkritik – durch anhaltende Zersplitterung der Szenen und hermetische Abgeschlossenheit vieler Zirkel, in denen man sich aus Angst vor „falschem Bewusstsein“ einschließt, diesem aber eben nicht verändernd entgegenwirkt. Zum Gelingen gehöre eine Portion Pragmatismus, der nicht das Ziel aus den Augen verliert. Für Stowasser sind dezentrale Strukturen und gegenseitige Vernetzung der Schlüssel, um Zentralismus und einer Verwaltung um ihrer selbst Willen begegnen. Die lokalen Selbstorganisationen der lateinamerikanischen Favelas oder indischen Armenvierteln, aus denen sich der Staat längst zurückgezogen hat, sind für ihn empirische Beweise für einen möglichen Erfolg. In nachbarschaftlicher Selbsthilfe und Solidarität sichern die BewohnerInnen gemeinsam das tägliche (Über-)Leben. Stowasser erinnert auch an die israelischen Kibuzze, die Zapatisten im mexikanischen Chiapas oder die vielen Open-Source-Gemeinden im Internet. Für die Leistungsfähigkeit dezentraler Strukturen führt er ferner den in Wirtschaftsunternehmen derzeitig vollzogenen Abbau zentralistischer Strukturen heran. Diese versuchen ihre verzweigten, vertikalen Hierarchien in überschaubarere Einheiten umzuwandeln. Das geschieht natürlich nicht mit Rückgriff auf anarchistische Theorien, allerdings wird unausgesprochen das umgesetzt, was anarchistische Modelle seit langem propagieren.

Selbstredend lässt sich ein kompliziertes Gebilde wie der Staat nicht mir nichts, dir nichts abschaffen oder unterlaufen, zumal er etliche Mechanismen inkorporiert hat, die das Aufweichen von Staatlichkeit verhindern. Sich davon aber abbringen zu lassen von der Lust auf Freiheit und den Versuchen, dieser nachzugehen und wenigstens ein bisschen selbstverwaltete Luft einzuatmen, stellt auch keine Lösung dar. Da Anarchie von Teilnahme lebt, mögen viele Menschen Stowassers kluges Buch lesen. Sein umfangreiches (512 Seiten), sehr informatives Kompendium lässt sich durch Register und Glossar leicht erschließen und ist auf Verständlichkeit ausgelegt. Es ist ein erhellender Kontrapunkt zum verbreiteten Glauben vom Utopismus herrschaftsfreier Gesellschaftsentwürfe und in seiner Dogmatikfeindlichkeit höchst sympathisch. Es erhebt keine Pacht auf der Weisheit letzten Schluss, sondern macht mit einer verbrämten politischen Philosophie und deren Praxisentwürfen bekannt. Als Inspirationsquelle bietet es all jenen eine Diskussionsbasis, die sich in dieser Welt nicht recht einrichten wollen, auf autoritäre Menschenexperimente aber ebenso zu verzichten wissen. Weder Patentrezepte feilbietend, noch aktionistisch lärmend, kratzt Anarchie! an der Selbstgewissheit der etablierten Gesellschafts- respektive Wirtschaftsordnung. Und das ist schon Gewinn genug.

Horst Stowasser: Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven
Edition Nautilus
Hamburg 2007
512 S. – 24,90 €
www.edition-nautilus.de

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