Begeisternder Saisonauftakt

Großes Concert mit Franke, Mendelssohn und Brahms unter Leitungs des Dirigenten Riccardo Chailly

Es ist eine Musik des Abschieds, die Bernd Franke 2006 als achten Teil seines Zyklus CUT komponiert hat. Frankes Mentor Hans Werner Henze war seinerzeit schwerkrank und es schien fraglich, ob er seinen 80. Geburtstag noch erleben würde. Und deswegen ist CUT VIII for Hans Werner Henze das ruhigste, behutsamste und versöhnlichste der drei Teile CUT VI-VIII, die das Gewandhausorchester bereits in der vergangenen Spielzeit als Simultanversion uraufführte.

Kern des Stücks ist laut Franke eine von Henzes Lieblingsmelodien, ein italienisches Kinderlied, das auch der seit den 50er Jahren in Italien lebende Widmungsträger in seiner Kinderoper Pollicino verwandte. Die einfache Liedmelodie taucht bei Franke gleichsam nur im Modus der Erinnerung auf, gespielt vom entfernten Cello auf der Orgelempore (Christian Giger), und wird verwischt vom Kanon mit den Streichersolisten aus dem Orchester und rauschenden Flageoletteffekten. Dazu pulsiert gleichmäßig das Schlagwerk, spielen die Blechbläser archaische Akkorde, beides Symbole der verstreichenden Zeit. Franke setzt die Streicherstimmgruppen bewusst selten chorisch ein, auch sie müssen ihre Motive kanonisch versetzt ausführen und dabei selbständig frei einsetzen. Für ein klassisches Orchester ist diese Verfremdungstechnik ungewohnt, und auch für seine Zuschauer sind scheinbar durcheinander spielende Cellisten ein neuer Anblick. Doch das Gesamtergebnis ist überzeugend, man spürt, dass der Musik seitens des Orchesters die nötige Spannung und Ernsthaftigkeit gegenübergebracht wird.

Das sonst gegenüber zeitgenössischer Musik eher reservierte Gewandhauspublikum reagiert ungewohnt begeistert auf die Musik und applaudiert dem Komponisten ausgiebig. Ist also im Jahre 2007 der Graben zwischen dem Konzertpublikum und der Neuen Musik (mit großem „N“) zumindest an einigen Stellen überbrückt, ohne dass eine der beiden Seiten sich verleugnet? Bekommt Musik der Gegenwart endlich wieder den ihr gebührenden Platz in Orchesterkonzerten? Ist die Uraufführung auf dem ansonsten konventionellen Programm kein Feigenblatt? Trägt Riccardo Chaillys Vorhaben einer „Verjüngung, Erneuerung und Bereicherung des Spielplans“ Früchte? Der Saisonauftakt mit Franke zumindest legt diese Schlüsse nahe, ebenso wie ein Blick in das neue Jahresheft, das Werke von Ligeti, Rihm, Tüür und anderen verspricht.

Derart vom Publikum angefeuert, stürzt Chailly sich und das Orchester mit ungeheurer Verve in den Beginn von Mendelssohns Italienischer Sinfonie. Die Energie des ersten Satzes ist Programm und bildet mit seinem Gegenstück, einem heftigen, aber ungemein präzisen Saltarello am Schluss, den Rahmen für die zwei eher kontemplativen Mittelsätze: das Andante, in dem Chailly feine dynamische Abstufungen innerhalb des Pianobereichs vorführt, und das bukolische Menuett.

Nach dieser ersten Hälfte reich an Italienbezügen überrascht Chailly im zweiten Teil mit einer ungeheuer herben Interpretation von Brahms‘ Vierter. Zögerlich, fragend beginnt er das Werk, in überraschend langsamem Tempo, zeigt dann aber bereits in der Coda des ersten Satzes seine besondere Fähigkeit für feurige Zuspitzungen. Chaillys Brahms ist schwer, aber nicht fett; grau, aber nicht unkonturiert. Die Bandbreite reicht von maßvollem Schwelgen bis zu gravitätischer Strenge. Fast choraliter klingt das Streichertutti im zweiten Satz, wie gemeißelt die Passacaglia-Akkorde im letzten, die die Bach-Kantate Nach dir, Herr, verlanget mich zitieren.

Eine überraschende und durchaus unbequeme Lesart von Brahms‘ vorletztem Orchesterwerk, die aber in ihrer Konsequenz überzeugen kann. Es erscheint hier mehr denn je als ein Werk der Resignation, wenn auch mit vorsichtigen Episoden der Hoffnung. Und so wird im Motiv des Abschieds ein unerwarteter Bezug zum Beginn des Konzerts deutlich, wenn er auch in Frankes CUT VIII eine vollkommen anders geartet war. Der Saisonauftakt überzeugt also sowohl in der Ausführung als auch inhaltlich, und dies weiß auch das durchweg positiv gestimmte Publikum ungewohnt euphorisch zu honorieren. So darf es gerne bis Juli 2008 weitergehen.

Großes Concert
Eröffnung der 227. Gewandhaus-Saison – Eröffnung der Mendelssohn-Festtage 2007

Bernd Franke: CUT VIII (for Hans Werner Henze) (Uraufführung der Einzelversion)
Felix Mendelssohn Bartholdy: Sinfonie Nr. 4 A-Dur op. 90, Italienische Sinfonie
Johannes Brahms: Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98
Gewandhausorchester
Dirigent: Riccardo Chailly

31. August 2007, Gewandhaus, Großer Saal

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