Filmgenuss hoch Sieben

Die 7. Filmkunstmesse Leipzig

Die Erfolgsgeschichte der Leipziger Filmkunstmesse hält an: Mehr Zuschauer, mehr Branchenvertreter, mehr Filme denn je. Und sogar ein weiteres Kino war dabei: Die Kinobar Prager Frühling gesellte sich zu den etablierten Aufführungsorten Passagen Kinos und Schaubühne Lindenfels. Um zehn Prozent auf 4.500 steigerten sich die Zuschauerzahlen. Über 60 Filme wurden gezeigt, davon konnten 43 vom öffentlichen Publikum gesehen werden. Die restlichen Filme wurden nur bei brancheninternen Vorführungen gezeigt. Bei Seminaren und Vorträgen informierten und stritten sich Verleiher und Kinobetreiber um das Kino von morgen. Die Kinokritiker (www.kinokritiker.de) und der Leipzig-Almanach wagen auch einen kleinen Blick in die Zukunft und stellen Euch unser Highlights der Messe vor, die in den nächsten Monaten das Kinopublikum begeistern werden.

Dialog mit meinem Gärtner

„Man sollte immer ein Messer und ein Stück Schnur bei sich haben, dann kommt man aus jeder Patsche.“ – Das ist nur ein guter Rat, den der Pariser Maler von seinem Gärtner erhält. In die Provinz seiner Jugend zurückgehrt, hatte er den ehemaligen Gleisarbeiter eingestellt, um den verwahrlosten Garten zu kultivieren. Während dieser aus der Gestrüpphölle einen kleinen Garten Eden hervorzaubert, entspinnt sich zwischen den beiden gegensätzlichen Charakteren eine innige wie eigentümliche Freundschaft. Sie kramen in ihren Erinnerungen, erzählen aus ihren unterschiedlichen Leben und der Künstler lernt die Welt ein klein wenig aus den Augen seines Freundes zu betrachten. Dessen eher schlichtes, alltagspraktisches Gemüt bringt immer wieder kleine Satzperlen hervor, etwa wenn er den Arbeitsmarkt im zoologischen Vergleich erklärt: „Jobs sind wie die Tiger. Es gibt bald keine mehr.“ Doch wo das Glück ist, ist auch das Unglück nicht weit. Davon macht auch dieser einfach nur wunderschön zu nennende Film keine Ausnahme, in dem sich Regisseur Jean Becker (Ein Sommer auf dem Lande, 1999) einmal mehr der sommerlichen französischen Landpartie widmet. Entstanden ist ein Werk voll Poesie, Lebenslust und Melancholie. Den Dialog auch einmal im Originalton zu verstehen, gibt Grund genug um die französische Sprache zu erlernen.

Free Rainer

Medien und Wahrheit passen nicht immer zusammen. „Dein Fernseher lügt.“ Diese wenig vage These ist die Grundlage von Free Rainer, der besonders die privaten Sender aufs Korn nimmt, die im Kampf um Quote jede Gülle in den Äther pumpen. Ein solcher Medienmacher und TV-Müll-Produzent ist Rainer. Von Ego und Drogen gepushed lebt er auf der Überholspur. Seine Mitmenschen interessieren ihn nicht wirklich. Das ändert sich nach einem misslungenen Attentat auf ihn: Ein Opfer seiner Trash-Sendungen will Vergeltung. Nach solcherart Katharsis geläutert zieht Rainer nun selbst gegen die manipulativen Medien ins Feld und dreht mit einer Handvoll Mitstreiter an der Quotenschraube. Der Effekt ist überraschend: Sein Engagement führt zur geistigen Befreiung des Fernsehpublikums. Der neue Film von Hans Weingartner (Die fetten Jahre sind vorbei, 2004) ist eine beißende Kritik an einer zynischen Kultur- und Unterhaltungsindustrie. Das mit rasanter Action pointierter Satire gefüllte Drama ist ein gekonnter Schuss gegen den Bug medialer Gedankenlosigkeit. Selbstredend ist diese inszenierte Kulturrevolution eine Utopie, die allerdings zu schön ist, um sich nicht an ihr zu erfreuen: Plötzlich berichten sich Alt und Jung in Cafés, im Park, in den Fußgängerzonen von ihren letzten Leseerlebnissen, lesen sich gegenseitig die schönsten Stellen vor und üben sich im Rezitieren. Und wenn sich die Menschen auf einmal zu lyrischen TV-Themenabenden zusammenscharen, möchte man doch an die Wahrhaftigkeit dieses Films glauben, der trotz einiger Überlänge ein kurzweiliges Vergnügen mit tieferen Ambitionen ist.

True North

Dass die Fangquote in der Nordsee mehr und mehr abnimmt und die dortige Fischerei bedroht, ist kein Geheimnis. Auch der schottische Trawler „Providence“ ist schwer verschuldet. Keine Alternative sehend, nimmt der Maat in Belgien zwei Dutzend Chinesen an Bord, um sie gegen Cash auf die britische Insel zu bringen. Seinem Vater, dem Skipper, verschweigt er dies. So bleiben die Migranten unter Deck versteckt und eingepfercht, während die „Providence“ neuerlich auf Fang gehend die Nordsee kreuzt, statt direkten Kurs auf Schottland zu nehmen. Die Fahrt endet in der Katastrophe. True North ist ein bewegendes Familien- wie Sozialdrama, das geschickt den Niedergang britischer Fischerei mit dem Elend von Flüchtlingen parallelisiert. Der Film gewährt Einblick in zwei Welten, von denen wir viel zu wenig wissen. Fast alle Szenen sind wirklich an Bord des Schiffes gedreht worden. Durch den Verzicht auf Tricktechnik gewinnt der Film eine Authentizität, die streckenweise dokumentarische Züge annimmt. Die Weite und Wilde des Meeres, die Verzweifelten unter Deck und ein brillanter Peter Mulloch lassen ein eindrückliches, bewegendes Werk entstehen. Regisseur Steve Hudson ist ein engagierter Film gelungen, der behutsam und in großartigen Bildern erzählt wird.

Immer nie am Meer

Ein Auto, drei Männer und eine Ratte. – Sehr unterschiedliche Charaktere sind nach einem Unfall so weit vom Meer ihrer Wünsche entfernt, wie man nur sein kann, nämlich eingesperrt in ein gepanzertes Auto – die abgelegte Limousine von Kurt Waldheim – eingekeilt zwischen zwei Bäumen mitten im Wald. Mit Heringssalat und Schampus als Proviant schwankt die Laune und Befindlichkeit ständig hin und her, wobei die Gespräche und Interaktionen oftmals einen so skurrilen und trockenhumorigen Stil annehmen, dass der Film trotz der wenigen Szenen, der Handlungslosigkeit und dem Ausbleiben jeglicher ästhetischer, filmischer Mittel dennoch ein hochsolides Amüsement für den Zuschauer bietet. Alle drei Hauptdarsteller in diesem stillgelegten road movie sind einfach zu köstlich in ihrer jeweils charakteristischen Heiterkeit, Angst und Verzweiflung angesichts ihrer misslichen Lage und ihrer ungewollten Verwendung als Laborratten zu erleben. Nicht zuletzt Heinz Strunk von Studio Braun brilliert auf dem Rücksitz dieser unterhaltsamen Low-Budget-Produktion.

You, the living

Vor einigen Jahren begeisterte der schwedische Regisseur Roy Andersson mit Songs from the second floor das alternative Kinopublikum. Das neue Werk You, the living kann man auch nur bewundern und bestaunen: Statische, bis ins Detail durchkomponierte Bilder, die sich im Fluss verborgener, versteckter Gefühle auflösen an ihren Rändern, in ihren Hintergründen und vergessenen Ecken und erst kaum merklich, und dann mit geballter stoischer Kraft die Visionen, Träume und Ängste ihrer geisterhaften Bewohner offenbaren. Voller Ironie und Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und ungebannter Gefühlspoesie ist diese Meditation aus Bildtableaus und Musik. Der Verleih Neue Visionen sucht noch nach einem deutschen Titel, der das Goethezitat adäquat ins Deutsche rückübersetzt. Irgendwann im nächsten Frühjahr, das Veröffentlichungsdatum ist noch unbekannt, kann man diese poetisch-ästhetische Überdosis in deutschen Kinos genießen.

Ex Drummer

Im belgischen Film Ex Drummer von Koen Mortier kommen Menschen unter skurrilen Umständen zusammen und sind aneinandergefesselt. Drei runtergekommene Existenzen und dilettantische Musiker bitten einen renommierten Schriftsteller, Drummer in ihrer Band zu werden. Der willigt ein und beginnt eine Reise in die Abgründe menschlichen Daseins, die er fasziniert kommentiert. Gottgleich wird er sich fortan durch blutige Gewalt, brutale Hetze, nihilistischen Menschenhass und sadistische Verwahrlosung bewegen, bis er alle ihrer Erlösung wegen untergehen lässt. Unkorrekt bis zur schimmligen Unterhose fließen die kaum zu ertragenen, brutalen Szenen im energetischen Fluss eines genialen, punkrockigen Soundtracks und reißen Liebe und Hass mit sich in einem Bilderwirbel von Wut und Verzweiflung bis zur Besinnungslosigkeit. Dies ist ein verstörendes Werk, auf seine eigene Art großartig und Bahn brechend. Dies ist ein Film, den man nur hassen kann, doch auf eine angewidert faszinierte Art und Weise.

Frei nach Plan ist der zweite Film von Franziska Meletzky, die mit ihrer Hochschulabschlussarbeit Nachbarinnen bereits großen Publikumserfolg hatte. Diesmal sind drei Schwestern nach langer Zeit wieder vereint, um den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern. Doch nicht nur deren Taumel zwischen alkoholgetränktem Zerfall und sorgender Mutterrolle, sondern auch die Spannungen zwischen den drei so wunderbar unterschiedlichen Schwestern mit ihren Macken und Neurosen entfalten ein unglaublich unterhaltsames Spiel von Komik und Dramatik. Ohne großen Handlungsbogen, ohne unvorhersehbare Wendungen, schlicht und ruhig gefilmt, und doch mit einem sicheren Blick für die Bedeutungen von Gesten und Blicken inszeniert Meletzky einen witzig-bösen und zugleich traurigen Film über die festgefahrenen Wege des Lebens, der getragen ist von einem umwerfenden, tief berührenden Spiel vierer Frauen, das man sich auf keinen Fall entgegen lassen sollte, wenn man ab 6. März 2008 auf der Suche nach tiefsinniger, grandioser Kinounterhaltung ist. Völlig zu Recht fiel die Wahl zum Zuschauerliebling auf diesen Film, der sich in die Herzen der Leipziger gespielt hat. Er erhielt den Publikumspreis der Filmkunstmesse, die Hoffnung macht auf eine aufregende und inspirierende Herbst-Wintersaison im Kino.

Dialog mit meinem Gärtner (Dialogue avec mon jardinier)

Regie: Jean Becker
Mit: Daniel Auteuil, Jean-Pierre Darroussin u.a.
FR 2007 – 109 min.

Kinostart: 20. Dezember 2007

Free Rainer

Regie: Hans Weingartner
Mit: Moritz Bleibtreu, Elsa Schulz Gambard, Milan Pechel u.a.
DE 2007 – 129 min.

Kinostart: 15. November 2007

True North

Regie: Steve Hudson
Mit: Peter Mullan, Martin Compston, Gary Lewis, Steven Robertson, Angel Li u.a.
DE, GB & IE 2006 – 96 min.

Kinostart: November 2007

Immer nie am Meer

Regie: Antonin Svoboda
Mit: Christoph Grissemann, Dirk Stermann, Heinz Strunk u.a.
AT 2007 – 88 min.

Kinostart: 4. Oktober 2007

You, the living

Regie: Roy Andersson
Mit: Björn Englund, Fred Anderson u.a.
SE 2006 – 92 min.

Kinostart: N.N.

Ex Drummer

Regie: Koen Mortier
Mit: Norman Baert, Dries Van Hegen, Gunter Lamoot, Sam Louwyck u.a.
BE 2007 – 105 min.

Kinostart: 8. Oktober 2007

Frei nach Plan

Regie: Franziska Meletzky
Mit: Corinna Harfouch, Dagmar Manzel, Kirsten Block, Christine Schorn u.a.
DE 2007 – 90 min.

Kinostart: 6. März 2008


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