Kein Heil, keine Erlösung: Wilde & Vogel zeigen „King Lear” als Nachtstück (Tobias Prüwer)

King Lear
Eine Koproduktion des Figurentheater Wilde & Vogel und des FITZ! Stuttgart
Lindenfels Westflügel
Regie: Hendrik Mannes
Spiel: Frank Schneider & Michael Vogel
Musik: Johannes Frisch & Charlotte Wilde
Premiere: 2. Oktober 2007
www.westfluegel.de


Alter schützt vor Torheit nicht: King Lear

Alas, my love, you do me wrong,
To cast me off discourteously.
For I have loved you well and long,
Delighting in your company…
Anonym: Greenssleeves

Lässt sich Liebe in Worten messen? Lear zumindest, der König von Britannien, findet diese Idee nicht abwegig und schreitet zur Tat. Das Unterfangen endet bekanntermaßen in der Katastrophe. Zum Finale seiner zweiten Spielzeit zeigt der Lindenfels Westflügel die wohl tragischste Tragödie aus Shakespeares Feder.

Vom Wahn getrieben, durchstreift der elende König Lear die Heide. Seine Altersruhe hatte er sich eigentlich ganz anders vorgestellt. Nach Entlastung von der Bürde des Königtums suchend, ruft er seine drei Töchter zu sich, um das Land unter ihnen aufzuteilen. Zuvor jedoch will er ihre Liebe testen. Weil sich die jüngste Tochter dieser Prüfung entzieht, verstößt er sie und überschreibt den anderen beiden das Reich. Doch bald findet er sich von diesen selbst ausgesetzt und muss sich im öden Freiluftasyl einrichten. Er irrt umher und verendet schließlich im Delirium.

Nachdem bereits 2002 die Projektarbeit an King Lear begann, feiert das Stück nun seine gelungene Premiere, übrigens die zweite des Westflügels. In mehreren Probe-Aufführungen hatte das Leipziger Publikum bereits Gelegenheit, in das Gedeihen des Werks Einblick zu nehmen. Nach Toccata und Spleen hat das Figurentheater Wilde & Vogel mit diesem Stück ein weiteres Mal menschliche Abgründe zum Thema gemacht. Das Shakespeareoriginal wird auf ein Zweipersonenstück zusammengekürzt. Die handelnden Personen sind der eindrucksvoll degenerierte Lear (Frank Schneider) und ein beißend-lästerlicher Narr (Michael Vogel) – die Töchter erscheinen nur als Figuren -, in deren Zwiegespräch Erinnerungen, Bilder und Spuren der Vergangenheit auftauchen. Unter eine Beckettsche Perspektive gestellt, dieser variiert die Tragödie in seinem Endspiel, finden Manie und Katastrophe besondere Betonung. Reizvoll an dieser Kreuzung von Personen- und Figurentheater ist ein Dopplereffekt: Narr und König treten zuweilen auch in Puppengestalt auf. Gerade die kleinen Szenen und Details gewinnen in dieser Minimalaufführung (Regie: Hendrik Mannes) an Gewicht: Etwa wenn ein einsamer Figuren-Lear verzagt an der übergroßen Krone rüttelt. Im freien Spiel treten in dieser Aufführung alptraumhafte Figuren in Erscheinung, wie an rachsüchtige Errinyen erinnernde, vogelartige Wesen oder ein mechanischer, regenbogenfarbener Drachen, der wutdampfend schnaubt. Es tanzen Dämonen und makabre Gestalten durchs Bild und Meervolk reitet auf einem Fisch ein. Die nicht nur begleitenden, sondern intervenierenden Musiker (Johannes Frisch & Charlotte Wilde) setzen ein Arsenal an Instrumenten ein. Mit Geige, Bass, einzelnen Orgelpfeifen, Trommeln und Becken geben sie der Aufführung den passenden klangatmosphärischen Rahmen. Triste Melodiefetzen, verzerrte Phonien umspielen die traurige Gestalt des Königs a.D., der vor den Trümmern seines Lebens steht und erst im wachsenden Wahnsinn die Wahrheit über sich selbst und die anderen erkennt.

Kein Hoffnungsschimmer, kein Heil, keine Erlösung werden in diesem Stück versprochen. Ausweglos, nur ein dunkler Schlund tut sich auf. Was bei Shakespeare bereits in den schwärzesten Farben ausgemalt wird, gewinnt in der reduzierten Variante noch an Leere und Trostlosigkeit. Hier wird King Lear als reines Nachtstück aufgeführt, die Agonie intensiv und illusionslos präsentiert.

Quält seinen Geist nicht, laß ihn ziehn! Der haßt ihn, der auf die Folter dieser zähen Welt ihn länger spannen will.
Shakespeare: King Lear

(Tobias Prüwer)

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