Rückspiel, Heimspiel, Vorspiel: Irina Pauls\‘ „Eisschnee” im „Fahrgastraum” (René Seyfarth)

Eischnee
Fahrgastraum
Theater der Jungen Welt
Choreografie: Irina Pauls
Tanz: Lena Meierkord & Ulrike Reinbott
7. Oktober 2007
www.leipzigertanztheater.de


Rückspiel, Heimspiel, Vorspiel

Dass Irina Pauls‘ Stelle in den 90er Jahren Einsparmaßnahmen zum Opfer fiel, ist ein wesentlicher Teil der Leipziger Tanz-Dolchstoßlegende. Nun ist sie zurück und dies wird wiederum als Fanal einer Tanz-Renaissance gedeutet. Das sind urbane Mythen in Echtzeit und wie es auch um deren Wahrheitsgehalt gestellt sei, sie erregen Aufmerksamkeit und ziehen Publikum. Lokalpatriotisch inspiriert findet sich plötzlich im Tanztheater wieder, wer sonst wenig darauf gegeben hat. Im Foyer vor der Premiere hört man Sätze wie „Hieß das hier nicht mal Haus der Volkskunst?“ oder „Hier war ich ja seit tiefsten DDR-Zeiten nicht mehr.“

Das Gemurmel und Geschrei reißt auch im Saal nicht ab. Unverständnis erntete nicht nur der offizielle Festivalfotograf, der von meiner Sitznachbarin für den ganzen Saal hörbar angeraunzt wurde, dass nun Schluss sei mit Fotografieren, sondern auch einer Tänzerin hallt es aus dem Saal lautstark entgegen: „Es reicht!“ Es war wohl ein Abend der offenen Interaktion.

Was reichte denn? Wer Tanztheater zum Antesten erwartet hat, war deutlich falsch beraten. Keine Akrobatik oder Sport nach Noten, sondern ein bild- und chiffrenstarker Theaterabend von stiller Intensität wurde geboten. Thematisiert wurde das Austesten von eigenen und fremden Grenzen, von den Möglichkeiten des Ineinanderspielens und dem Austarieren zwischen Intimsphäre einerseits und dem Bedürfnis nach Nähe auf der anderen Seite. Irina Pauls und ihre Tänzerinnen haben dafür einprägsame und einzigartige Bilder gefunden, die ohne große Pose wirken. Unaufgeregt wird erzählt; technisches Können ist Voraussetzung, nicht Ausstellungsstück. Wenn der Vergleich auch ungerecht ist: Diese Herangehensweise hätte man sich bei einigen Stücken im Rahmen des Festivals mehr gewünscht. Das Publikum musste leider so manches uninspirierte Gezappel anschauen, das auch mit fadem Höflichkeitsapplaus abgestraft wurde. Und allzu ungerecht ist der Vergleich dann auch nicht, denn auch Semiprofessionelle können denken, können Geschichten erzählen – ein Festival für Tanztheater ist keine Leistungsschau der hochgeworfenen Beine, sondern sollte idealerweise Tanz als eigenständiges Ausdrucksmittel weiterschreiben.

Und genau hier trifft Irina Pauls punktgenau. Der Einstand ist gelungen und bildet hoffentlich das Vorspiel zu einer ganzen Reihe von ähnlich geschmackssicheren Stücken, die nicht gleich eine Renaissance des Leipziger Tanztheaters einleiten müssen, aber doch mit Sicherheit anregende Impulse geben werden. Wenn sich nun auch noch das Gelegenheitspublikum, dass am Premierenabend eher durch Zufall in die Vorstellung hineingerauscht ist, auch von Zeit zu Zeit wieder für das Sujet begeistern kann, so wäre die Rückkehr von Irina Pauls tatsächlich ein großer Gewinn.

(René Seyfarth)


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