Mit einem lachenden und einem weinenden Auge

Ein Resümee des 50. Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm

Für das Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm konkurrieren Filmemacher aus der ganzen Welt. Im 50. Jubiläumsjahr gab es zum ersten Mal einen Nachwuchswettbewerb. Eine Reise durch die dokumentarische Gegenwart.

„Die Schönheit des Films beginnt dort, wo das Schauspielen aufhört.“ Dieser Satz von Godard führt geradewegs zum dokumentarischen Film. Die Authentizität wird zumeist am Objekt, am Gegenstand, an der Wirklichkeit festgemacht. Die Wirklichkeit des diesjährigen Dokumentarfilmfestivals schlug mit voller Wucht in Leipzig auf und präsentierte sich mit aller Schwere, denn es waren keine leichten Geschichten, mit denen die Filmemacher das Publikum überraschten. 315 Filme aus 60 Ländern erzählten vorrangig von Krieg und Zerstörung, Psychosen, persönliche Dramen. Das ließen jedenfalls die Veranstalter schon zu Beginn des Festivals verlauten.

Keime in der Asche
Der Dokumentarfilm ist kein Mittel zum Schönreden, das ist Fakt. Bestes Beispiel ist die russisch, französisch, schweizerische Koproduktion The Mother (Bild 1). Neun Kinder. Viel Arbeit. Kein Mann. Oder einer, der zuschlägt oder trinkt. Es ist das kleine alltägliche Glück, was diesen Film über eine Familie in einem abgelegenen russischen Dorf am Leben hält. Wie sich Ljuba mit ihren Kindern eine Kissenschlacht liefert, wie die zahnlose Hochzeitsgesellschaft der ältesten Tochter Alesja ein neues Unglück betrinkt. Und trotzdem nicht den Lebensmut verliert. Eine wunderbare Studie über das neue Leben im Alten und umgekehrt. Um ein neues Leben geht es auch den Jugendlichen in dem brasilianischen Film Behave. Sie verantworten sich vor dem Gericht für ihre begangenen Strafhandlungen. Trotz extra dafür eingesetzter Schauspieler gelingt es der Regisseurin Maria Augusta Freire ganz nah an den emotionalen Beweggründen der jungen Erwachsenen zu bleiben und gleichzeitig ein grobes Bild des brasilianischen Justizsystems zu entwerfen. Hoffnungslos und hoffnungsvoll.

Der Film des Briten Paul Watson führte mitten hinein in die Abgründe menschlichen Daseins. Rain in my heart (Bild 2) begleitet vier Alkoholkranke Menschen auf ihren Wegen, kommt ihnen ganz nah und offenbart die ganze Hässlichkeit eines schleichenden Todes. Einem Höllentrip gleich, ohne die Gnade künstlerischer Distanz, ist der Filmemacher geworfen in die Momente, die über Leben oder Tod entscheiden, und muss sich und seine Rolle im Leben der von ihm Beobachteten zum Thema machen. Doch zwischen Kotzkrämpfen, aufgedunsenen Leibern und Sterben fängt er Augenblicke der Schönheit, des Verstehens ein und entdeckt in der dunkelsten Verlorenheit der Protagonisten einen Funken Hoffnung.

Der einzige deutsche Beitrag Kinder. Wie die Zeit vergeht. (Bild 3), der es dieses Jahr in den Internationalen Wettbewerb schaffte und dazu noch die Silberne Taube gewann, wendet sich zwar der vielbeklagten ostdeutschen Tristesse zu, doch entgeht den üblichen Klischees wie zum Beispiel der Suche nach einem zu beklagenden Prekariat. Zwischen schwarzweißen, zeitlosen Bildern von endlosen Industriehainen und verlassenen Betonwüsten, schön und grausam zugleich, entfaltet Thomas Weise in zurückhaltender aber eindringlicher Manier das Panorama eines familiären Teufelskreises. Gefangen in den verloren Hoffnungen der Eltern, scheitern die Jüngsten an der Sprachlosigkeit und an den Vorurteilen ihrer Umwelt.

Der Gewinner des Internationalen Wettbewerbs Don’t get me wrong (Bild 4) von Adina Pintilie stellt die Bewohner eines psychiatrischen Wohnheims in Rumänien in den Mittelpunkt. Allerdings entdeckt sie in der kalten, nackten, leeren Umgebung des Heims das Menschliche wie eine erblühende Blume in einer kargen Landschaft. In präzisen, langen, fast anthropologischen Einstellungen taucht die Kamera in eine eigene Welt, in der so vieles Sinnloses einen Sinn ergibt, Gott zu einem spricht und wo in aller Höflichkeit debattieren wird, wer den Regen regiert. Auch am Rand der Gesellschaft, in der größten Hoffnungslosigkeit einer lebenslangen Verwahrung keimt die Schönheit des Daseins.

Die Transzendenz des Raumes
Auch wenn sich der dokumentarische Blick auf Menschen und ihre Wege richtet, so sind sie doch immer eingebettet in Räume und Umwelten. In ihnen müssen sie sich definieren und ihren Platz finden. Doch das Außen der Gedanken und Gefühle wirkt in stetem Druck auf sie zurück, formt sie und lässt sie manchmal nicht mehr los. Dem Leben, der Wirklichkeit kommt man besonders nahe, wenn man diese Einheit zu erfassen versucht. Dem Dänen Tom Fassaert gelingt in seinem Film Doel is alive ein elegischer Blick auf eine sterbende Gemeinde im Hafengebiet von Antwerpen. Seine behutsame Spurensuche in zeitlosen Schwarzweiß-Aufnahmen findet einen in sich ruhenden Lebensfunken im Humor und im Pragmatismus der verbliebenen Gemeinschaft der Alten. Um alte Menschen an einem vergessenen Ort geht es auch in How to save a fish from drowning der Amerikanerin Kelly Neal. Beim Eisangeln in einer mobilen Hütte halten sich die alten Männer am Anker der Erinnerung längst vergangener Zeit fest, doch geben sich nicht verloren und füllen die Leere der Landschaft mit ihren Gefühlen und Gedanken an eine bessere Zeit. Dass aber die Umgebung, der Raum des Lebens einen harten Bruch durch die Wirklichkeit markieren kann, demonstriert John Smith eindrucksvoll in seinem Film Dirty Pictures (Hotel Diaries 7). Er entlarvt die Sicherheit des Hotelzimmers, dringt in seiner Dokumentation des Interieurs durch dessen Oberfläche, in dem er von erlebten, dramatischen Ereignissen an einem Grenzübergang zwischen Israel und Palästina berichtet und aus dem Fenster die Mauer durch die Stadt Bethlehem kurz ins Visiert der Kamera nimmt. Auf eindringliche Weise hinterfragt er die Normalität in der Parallelität mit dem Absurden, das Hotelzimmer wird so zum Anormalen gegen die schreckliche Normalität da draußen.

Die Kamera im Handgepäck
Dass Geschichten an verschiedenen Orten auf der Welt auf ganz verschiedene Weise erzählt werden, zeigt das Dokfilmfest Leipzig in ziemlich komprimierter Form. Der belgische Filmemacher und Anthropologe Laurant Van Lancker widmete dieser Thematik einen eigenen Film. In neun Monaten reiste er mit seiner Freundin über den Landweg von Belgien nach Vietnam und ließ die Menschen eine Geschichte weitererzählen. Ihre Geschichte. Surya ist ein großer, bunter Flickenteppich aus orientalischen Klängen und Gesängen, rappenden Chinesen, Schattenspielen, buddhistischen Mönchen und singenden Muslimen. Und alle haben etwas zu sagen. Alles zusammen ein bisschen zu viel und deshalb verwirrend. Am Ende bleibt aber die Reise das Ziel, genauso wie in Lucie et Maintenant, nur eben nicht so weit. Ein junges Paar reist im VW-Bus von Paris nach Marseille. An jeder zweiten Raststätte übernachten sie und tun es den beiden Schriftstellern Julio Cortázar und Carol Dunlop gleich, die über ihren Autobahnausflug ein Buch schrieben. Nur für sie war es im Jahr 1982 ihre letzte Reise. Die Verbindung zwischen beiden Geschichten bleibt unklar, der Film verhakt sich als intellektuelles Roadmovie ohne wirkliches Ziel in omnipräsenter Selbstdarstellung. Eine Selbstfindungsreise mit fadem Nachgeschmack. Ganz und gar nicht fad, sondern mitreißend und emotional bleibt der Film Someone like you (Bild 5) im Gedächtnis. Eine Reise durchs Leben. Im Wohnwagen. Mit emotionaler Feinfühligkeit begleitete die dänische Regisseurin Nanna Frank M?ller die zwei Geschwister Aylin und Sky auf dem letzten Stück ihrer Reise mit einem Wanderzirkus. Noch einmal finden sich die Artisten zusammen, um eine gemeinsame Vorstellung zu geben. Damit endet nicht nur ein Lebensabschnitt mit schmerzvollen und prägenden Erinnerungen, sondern es beginnt auch etwas Neues, Ungewisses. Wunderschöne, ehrliche Bilder erzählen mit unverklärter Melancholie über die Suche nach der Heimat, die Schwere des Loslassens und die Hoffnung eines Neuanfangs. Zurecht der Gewinner des Nachwuchswettbewerbs Generation Dok.

Der Blick des Sohnes
Wer hat nicht Angst davor, am Ende seines Lebens zu erfahren, dass alles eine Lüge war? Drei Monate nachdem die Mutter gestorben ist, verkündet der Vater, dass er seine frühere Sekretärin Kitty heiratet. Ein Schlag in die Magengrube für alle Beteiligten und auch für Sohn Doug, der diesen Film 51 Birch Street über seine Eltern gedreht hat. Ein Schlag in die Magengrube auch, als er beginnt die alten Tagebücher seiner Mutter zu lesen. Die Lüge entwickelt sich zu einem neuen Blick auf die eigenen Eltern, auf eine andere Generation, auf das, was man denkt, voneinander zu wissen. Eine Familiengeschichte passend im Home-Video-Style, mehr als sehenswert.

Mit einem Film über seine Eltern brachte sich auch Igor Heitzmann, der Sohn des berühmten Komponisten Otmar Suitner, ins Geschehen des Dokfilmfestivals ein. Der Unterschied: In Nach der Musik liegen von Anfang an alle Karten auf dem Tisch. Heitzmanns Mutter war jahrelange Geliebte des geistreichen Musikers. Am Ende seines Lebens kommen sie alle zusammen: Frau, Geliebte, Sohn und männlicher Mittelpunkt. Bizarre Sozialkonstruktion umschwungen mit musikalischen Originalaufnahmen. Seinem Vater wollte er durch diesen Film und über die Musik näher gekommen. Gelungen ist ihm das nicht. Steife Dialoge und trockene Fragen bauen eine Mauer um jeglichen emotionalen Zugang. Schade. In Erinnerung bleiben der Witz und der Charme eines Mannes, der auch in hohem Alter seinen klaren Verstand und seine Liebe zur Musik nicht verloren hat.

Die Ambivalenz der Schicksalsschau
Bei aller Schwere, allen Schicksalsschlägen und mitreißender Melancholie, die auf den Leinwänden der insgesamt 276 Vorstellungen des diesjährigen Festivals zu sehen und zu erleben waren, konnten aber auch immer wieder Inseln der guten Laune und Dokumentationen des Auslebens von Lebensgefühl entdeckt werden. Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und schwarzem Humor kam zum Beispiel der Film der neuseeländischen Filmemacherin Jessica Feast Cowboys and Communists daher. Lacklederliebende Lautemusiktypen hausen im ersten Stock in einem Berliner Wohnhaus, systemtreue Ostberliner oben drüber. Dass das nicht gut gehen kann, sieht man auf den ersten Blick. In einem gelungenen Gegenschnitt porträtiert sie die beiden verfeindeten Parteien. Man kann mitfühlen mit den tätowierten Rockertypen und ihrer Leidenschaft für barbusige Frauen und schrille Partys. Mitfühlen kann man auch mit den malträtierten Nachbarn, deren Sozialismusliebe aber schnell auf die Grenzen des guten Geschmacks stößt. Was am Anfang noch witzig erscheinen mag, entwickelt sich am Schluss zum Abbild eines Gedankengefängnisses höchster Absurdität. Ein feinfühliger Blick auf ein Stück DDR-Geschichte zum wütend werden.

Und so war es die übergroße Bandbreite an Gefühlen und Schicksalen im Programm des 50. Leipziger Dokumentar- und Animationsfilmfestivals, welche die etwa 31.000 Besucher anzogen und dem Festival eine neuen Zuschauerrekord bescherten. Auch wenn man sich im Laufe der Festivaltage manchmal nicht dem Eindruck verwehren konnte, die Welt bestehe nur aus Leid und noch größerer Zuschauerfaszination daran, so waren es gerade Filme wie zum Beispiel The Mother oder Cowboys and Communists, welche den Besucher mit einem lachenden und einem weinenden Auge in die eigene Realität entließen und den großen Wert des Dokumentarfilms in Zeiten der Blockbusterunterhaltung untermauerten. Das gefilmte Leben, welches sich über den eigenen Tellerrand hinaus bewegt, ist durchaus sehenswert und unterhaltsam, wenngleich es einen mit voller Wucht zurückreißt in das Eigene.

50. Internationales Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2007 in Leipzig
29. Oktober bis 4. November 2007
Unter anderem:
1. „Kinder. Wie die Zeit vergeht.“ von Thomas Heise: Silberne Taube / Internationaler Wettbewerb
2. „Don’t get me wrong“ von Adina Pintilie: Gewinner des Internationalen Wettbewerbs
3. „Someone like you“ von Nanna Frank M?ller: Gewinner des Nachwuchswettbewerbs Generation Dok
www.dok-leipzig.de


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