Nichts für popverseuchte Lauscher

„In the Crystal Cage…” & „icarus e.p.” als Inner Cinema

Unter dem kleinsten gemeinsamen Un-Nenner, der schrecklichen Metapher vom Inner Cinema, also des Kinos im Kopf, versammelt der Sampler der Kulturzeitschrift :Ikonen: 14 Beiträge von 13 Gruppen aus dem Spannungsfeld zwischen Ambient, Industrial, experimenteller Musik und Folk.

Der Untertitel der Sammlung legt es derweil bereits nahe: Besonders heiter soll es nicht werden. Eher geht es um dunkle Klanglandschaften, Entfremdung, Kälte. Die ersten Tracks sind zunächst ein wenig langatmig in ihrer routiniert-dissonanten Dunkelheit. Sound wie Genre erweisen sich als recht statisch, wenn nicht gar stagnierend. Wer Tesco nicht für eine Softwarefirma und Cold Meat Industry nicht für eine Schlachthauskette hält, wird hier schwerlich Neues entdecken. Richtig hinhörenswert wird es erst bei Track 4: Deadly Orgone Radiation, beigesteuert von Galerie Schallschutz. Bei ausreichender Lautstärke gespielt, erzeugt das immer wieder in langen anschwellenden Schleifen anschlagende, harsche Dröhnen, ein wahres Glücksgefühl. Grandios.

Nach einigen Füllern mit Szene üblichem Material kommen Drape Extrement zum Zug. Verhallte Stimmfetzen, metallisches Kratzen im Echotunnel, ein zugegebenermaßen leicht stereotyper und dennoch intensiver Trip. Dann attackieren wirbelnde Verzerrung, weißes Rauschen in aggressiven Wellen, herrlich, tief tönende Rückkopplung. Das könnte ewig so weitergehen, ist aber leider kaum vier Minuten lang. Gleich danach knarzen sich die berüchtigten Anezephalia durch unsere Gehörgänge, dümmliches Vogelgezwitscher im Hintergrund trifft auf mit massiv mit Delay versehene, verzerrte Perkussion. Nichts Neues im Industrialland, ein Witz gegen die neue Throbbing Gristle Platte, aber allesamt sehr schön sägend – in Ordnung.

Eigentlich unbemerkt geht dann das Rauschen von Anezephalia in das Rauschen von Tho-Sa-Aa (wer denkt sich da eigentlich immer die Namen aus?) über. Dennoch: Hier geht es um einiges spannender zu. In bester Zahnarztbesuchsmanier fräsen sich Hochfrequenzen durch die popverseuchten Lauscher, während im Hintergrund eine monotone Rhythmusschleife vor sich hin rattert. Der Ausklang erweist sich als überraschend chillig und offenbart das eigentliche Ziel eines aufmerksamen Lauschens nach der vorgeschalteten, reinigenden Schmerzfrequenzattacke. Einer der spannendsten und intensivsten Beiträge auf dieser Compilation und gleichzeitig mein Anspieltipp.

Zum Abschluss steuern Naevus und Pilori (neo-)folkige Klänge bei. Erstere nerven mit drängendem Akustikgitarrenspiel, eigentlich schönem Lied und schrecklich ernstem Gesang – „kämpferisch“ schreibt man da wohl, ich sag: Gähn. Piloris Beitrag Jour de silence ist die eigentliche Nicht-Industrial-Überraschung des Samplers. Hatte ich Pilori von ihrer gemeinsamen Tour mit Sol Invictus als schrecklichen Gothic-Neofolk-Hybriden in Erinnerung, überraschen sie hier mit einem großartigen, versponnen-träumerischen, ganz und gar unpeinlichen Song. Das Lied tragen leicht exotistische Perkussions, helle Glöckchen, leichte Akustikgitarren, ein verzerrtes Sprachsample und eine verführerische Frauenstimme. Zum ersten Mal herrscht Entspannung.
Alles in allem beschleicht den Rezensenten manchmal das Gefühl im anvisierten Genre habe sich seit Jahren nix getan. Dennoch weiß der Sampler mit guter Dramaturgie und einigen Überraschungen zu überzeugen. Mehr als solide und in Einzelbeiträgen hervorragend.

Beim gleichen Verlag ist außerdem die sehr empfehlenswerte Icarus e.p. der Gruppe :Golgatha: erschienen. Geboten wird ein knapp viertelstündiger Mix aus Ritual-Ambient Passagen und klassischem Neofolk. Auf zwei Liedern wird die Gruppe dabei von Herbst9 unterstützt, ein anderes Mal greift das ehemalige Death In June Mitglied Patrick Leagas (Sixth Comm) zum Mikrofon. Gleich das erste Lied Icarus rising I erweist sich als typisches Ambient-Gitarrengeplenkel Intro, welches genregemäß schnell verhallt ist. Es folgt der Titeltrack, welcher ein leicht bombastisches, mit schwerem Synthie und Gong versehenes Klampfen-Neofolk-Stück bietet. Wirken die Strophen noch etwas uninspiriert, so weiß hier doch der Refrain zu begeistern: „Icarus falling/Daedalus rising/To fall – not to fly/is he law“. Ein Schelm, wer da gleich an Daedalus falling von Death In June (feat. David Tibet von Current 93) denkt. Es folgt ein leider achteinhalb minütiges dunkles Ambientstück, in welchem ein monotoner Rhythmus dominiert. Gähnende Nettigkeit. Icarus Law bietet da schon weitaus mehr Excitement. Verhallte Perkussion sowie einfache aber stimmungsvolle Akustikgitarrenbegleitung im üblichen DIJ/C93 Mitneunziger-Stil untermalen ruhig gesprochene Vocals, welche an den thematischen Überbau der EP anschließen. Nach diesem zweiten Highlight folgt wieder wabbernder, endlos-düster-Ambient. Allerdings gilt: Das Durchhalten lohnt sich. Denn im folgenden Icarus – Acoustic Mix hören wir eine bekannte Kultstimme: Der bereits erwähnte Patrick Leagas beweißt mal wieder, warum Nada eines der spannendsten Alben der 80er darstellt. Der einfache Neofolksong erhält durch seine Performance eine stimmigere Note, sowie ein gewisses, unpeinliches Pathos. Herrlich. Unter dem Strich bleibt eine gelungene EP einer Band mit viel Potential, welche sich abseits der grassierenden Szene-Verdummung hält. Ein Anfang.

V.A.: In the Crystal Cage… A Collection of Isolationist Soundscapes for the Inner Cinema

75 min – 15 €
& :Golgotha:: icarus e.p.
15 min. – 10 €
beide erschienen bei :Ikonen:media

www.ikonenmagazin.de

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