Der letzte Rest der Würde oder der Versuch, unversehrt auszusehen

Lucy Frickes „Durst ist schlimmer als Heimweh” irritiert auf subtile Weise

Judith ist sechzehn, endlich aus der Hölle ihrer Kindheit geflüchtet und nun in einer betreuten WG untergekommen, deren Bewohner alle äußerst kaputt sind, da sie von den Menschen, die sie lieben, auf das Böseste verraten wurden. Was passiert mit Kindern, deren Eltern sie sowohl psychisch als auch physisch missbrauchen? Die Kinder werden zu Erwachsenen, die mit ihrem Schmerz, ihrer Wut, ihren Rachegelüsten und schlussendlich mit den Trümmern ihrer selbst fertig werden müssen.

Erzählt wird von einer Jugend, hier vertreten von den vier Heimbewohnern, die versucht, mit ihrem Schicksal klar zu kommen, den letzten Rest ihrer Würde und ihrer Lebenslust zu bewahren und dabei so unversehrt wie möglich auszusehen. Aber genau das klappt meistens nicht, und die körperliche wie psychische Versehrtheit wird dadurch nur noch offenkundiger.

Lucy Fricke schafft es, ohne bemitleidenden oder pädagogischen Gestus, ihre Figuren so zu zeichnen, dass deren Verzweiflung, deren Dummheiten und deren Witz nie billig, pathetisch oder tragisch wirken. Ihr Blick scheint von innen zu kommen, nicht von außen, und ist doch nicht im Geringsten gefühlsduselig. Das Schreckliche, also die Hilflosigkeit dieser Sechzehnjährigen, deren Jugend schon seit Jahren zerstört und immer noch nicht vorbei ist, liest sich zwischen den Zeilen, zwischen den alltäglichen Beschwerlichkeiten und kleinen bis großen Katastrophen, den Erinnerungen an den – nie ausgestellten- Missbrauch. Hier wird nicht mit dem Finger auf das eigentlich Schlimme der Geschichte gezeigt. Vielmehr erschreckt die vermeintliche Normalität, mit der von einer Sechzehnjährigen erzählt wird, die mit den Auswirkungen ihres Alkoholentzugs kämpft, die mit ihrem Dealer schläft, um ihren Freunden Drogen zu besorgen, aber nicht mit dem Jungen, in den sie verliebt ist, da Sexualität für Judith nichts Wünschenswertes ist, nichts mit dem Begehren zu tun hat, das sich in ihrem Schamgefühl gegenüber diesem Jungen äußert. Unter anderem dieses „unschuldig“ anmutende Schamgefühl macht deutlich, dass dies die Geschichte eines erst sechzehnjährigen Mädchens ist, die damit an Brisanz gewinnt.

Die Geschichten der Jugendlichen sind verstörend, traurig und krass, aber die Art und Weise, wie sie erzählt werden, ist ganz nah an den Figuren. In den oft humorvoll gezeichneten Situationen, die das Scheitern des Versuchs beschreiben, sich von seiner Vergangenheit und der eigenen Schwäche zu emanzipieren, kommt diese Feinfühligkeit gegenüber den Protagonisten am schönsten zur Geltung.Durst ist schlimmer als Heimweh macht nicht drastisch betroffen, irritiert vielmehr subtil. Lucy Fricke hat einen Roman geschrieben, der durch seine gnadenlose Offenheit, die immer wieder hervortretende Komik des Versagens und schlussendlich durch die unsagbar traurige wie krasse Geschichte, fesselt und mitnimmt.

Die Absolventin des hiesigen DLL stellt ihrem Erstling eine Textzeile des Kante-Songs „Zombie“ voran: „Wir sind von vornherein verdächtig, nicht ganz bei Trost zu sein.“ Das Buch könnte dementsprechend auch mit einer weiteren Textzeile aus jenem Lied enden, die fast so etwas wie Hoffnung mitschwingen lässt: „Unser Schmerz und unsere Wunden, sind unser größtes Kapital.“

Lucy Fricke: Durst ist schlimmer als Heimweh
Piper Verlag
München 2007
192 Seiten – 16,90 €
www.piper-verlag.de

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