Ton für Ton zelebrierend

Grigory Sokolov spielt Mozarts Klaviersonaten und Chopins Prelúdes

Im heutigen Konzertbetrieb sind wir mehr oder weniger daran gewöhnt, dass Künstler vor allem sich selbst wichtig nehmen, erst in zweiter Linie die zu spielende Musik. Bei Grigory Sokolov ist es genau anders herum: Von dem Moment an, als er das Podium betritt, verweigert er sich demonstrativ allen äußerlichen Gesten. Ohne Umschweife beginnt er zu spielen und selbst zwischen den beiden Mozart-Sonaten des ersten Teils lässt er keinen Raum für Applaus. Glücklicherweise ist von diesem nüchternen, etwas abweisenden Auftreten in seinem Spiel nichts zu bemerken. Mithilfe seines fast unbegrenzt scheinenden Anschlags- und Klangfarbenrepertoires gewinnt Sokolov den schon so oft gespielten und gehörten Sonaten immer wieder individuelle Züge ab. Um die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis kümmert er sich dabei kaum – seine Sichtweise ist modern, seine pianistischen Mittel sind es auch. Angesichts einer ebenso lebendigen wie abwechslungsreichen Aufführung spielt dies allerdings keine Rolle. Bei aller Individualität nimmt Sokolov Mozarts Vorgaben ernst. So führt er alle vorgeschriebenen Wiederholungen aus und nutzt sie zugleich für dezente Varianten und zusätzliche Verzierungen. Auch wenn Sokolov der Virtuosität Mozarts eindrucksvoll Raum gewährt, so legt er den Schwerpunkt seiner Aufführung doch eindeutig auf die langsamen Sätze, die er geradezu Ton für Ton zelebriert. Sie stehen dadurch zwar gleichsam außerhalb des Gesamtgefüges, was den Satzzusammenhang beinahe sprengt, jedoch verzeiht man dies gern angesichts der großen Schönheit, die Sokolov hier entfaltet.

Chopins Préludes gehören zu den eigenwilligsten Tonschöpfungen des Komponisten. Oftmals aphoristisch kurz in der Form, präsentieren sie den ganzen Kosmos pianistischer Kunst. Dabei lassen sich größere Kontraste kaum denken: Während einige der Stücke extreme technische Anforderungen stellen, werden andere selbst von Laienmusikern gespielt; und während aus manchen stille Melancholie klingt, verstören andere mit schmerzvollen Ausbrüchen. Sokolov spielt die Extreme aus und lässt die Kontraste unvermittelt aufeinander prallen. Seine musikalische Charakterisierungskunst erlaubt es ihm, jedes Prélude als eigenständiges Kunstwerk auszuarbeiten und seine jeweiligen Merkmale prägnant herauszustellen. Nachdem das letzte Prélude verklungen ist, reißt es einen Großteil des Publikums von den Sitzen. Der Beifall fällt so euphorisch aus, dass sich der Pianist zu fünf Zugaben überreden lässt. Angesichts seines sehr zurückhaltenden Auftretens ist dies die Überraschung des Abends.

Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonaten KV 280 und KV 332
Fryderyk Chopin: Préludes op. 28
Klavier: Grigory Sokolov

30. Januar 2008. Gewandhaus, Großer Saal

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