Das Ich ist kein Gegenstand

Marc Buhls „375” ist beklemmende Lektüre über die Identität und ihre Risse

Als Paul Cremer 2007 in einer Klinik erwacht, wähnt er sich im Jahr 1989 und immer noch im Stasigefängnis Hohenschönhausen. Das jedenfalls sind die Erinnerungen, die er hat: An ein Leben mit Hannah und als Nummer 375 im Knast. Die 18 Jahre, die dazwischen liegen, gibt es nicht mehr, kennt er nicht mehr. In diesem zweiten Leben hat er im Schwarzwald eine Christiane geheiratet, einen Sohn gezeugt, Freundschaften geschlossen, Antiquitäten verkauft. Während dieser Zeit hat er scheinbar völlig verdrängt, was davor war. Sich nicht an das Schöne erinnert, mit Hannah und den anderen, und auch nicht an die Grausamkeiten der Wärter und Vernehmer, an die Brutalität derer, die glaubten auf der richtigen Seite zu stehen und die auch 2007 nicht verstehen, was schlimm daran ist, „Handlanger des Imperialismus“ zu quälen. Leben Nummer drei beginnt in der Klinik und in dieses stolpert Cremer hilflos hinein. Hier ist er mit dem Jahr 2007 konfrontiert und mit den Fragen, warum Leben zwei stattgefunden hat und warum er es mit einem Kopfschuss beenden wollte. Vor allem aber muss er sich entscheiden: Für eine Identität und sämtliche dazugehörigen Erinnerungen. Das Erinnern fällt Cremer schwerer als das Vergessen. Leicht fällt ihm zu vergessen, dass er vergisst.

Mit treffenden Worten, passenden Bildern und viel Sinn für Details erzählt Marc Buhl Cremers beklemmende Geschichte. Unterschiedliche Zeitebenen und Perspektivwechsel sorgen für einen absolut stabilen Spannungsbogen bei dieser Suche nach der Vergangenheit. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den Dingen, die gewesen und denen, die gegenwärtig sind, um schließlich aus Leben drei ein vollständiges Leben schaffen zu können.

Marc Buhl: 375
Eichborn
Frankfurt/M. 2008
288 S. – 19,95 €
www.eichborn.de

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