Mehr als eine Wiederaufnahme

Peter Konwitschnys legendäre Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ ist ins Repertoire der Leipziger Oper zurückgekehrt

Die Nachricht bescherte der Oper Leipzig just jene mediale Aufmerksamkeit, die den Premieren der letzten Jahre meist versagt blieb: Peter Konwitschny wird im August 2008 die neugeschaffene Position des Chefregisseurs antreten und will dem Haus neben eigenen Inszenierungen – darunter auch Übernahmen vielbeachteter Produktionen – durch Spielplangestaltung und personale Mitsprache wieder ein unverkennbares künstlerisches Profil verschaffen. Folglich ging das allgemeine Interesse an der von Konwitschny selbst besorgten Neueinstudierung seiner Bohème, deren Premiere im Dezember 1991 gleich zu Beginn der Ära Zimmermann einen Meilenstein in zeitgenössischer Musiktheater-Regie setzte, weit über das einer gewöhnlichen Wiederaufnahme hinaus und gab Zeugnis von der aktuellen Aufbruchsstimmung an der Leipziger Oper.

Dass Inszenierungen von Giacomo Puccinis La Bohème zu den Methusalems des Repertoires gehören, ist gerade an großen Opernhäusern keine Seltenheit. Als eine Art Weihnachtsmärchen für prestigebedürftige Kulturinteressierte sorgt die dekorative Schilderung aus dem zwanglosen Leben und Lieben der brotlosen Künstler, deren verklärtes Bohème-Idyll – nur allzu oft erinnert ihre Dachmansarde an Spitzwegs Armen Poeten – durch Mimis Tod scheinbar urplötzlich ein jähes Ende nimmt, für ein wenig gepflegte Sentimentalität im Publikum und garantiert gerade in der kalten Jahreszeit stets volle Ränge. Der Leipziger Produktion ist allerdings ihr Alter – 16 Jahre sind für ein städtisches Opernhaus eine beachtliche Zeit – nicht im Geringsten anzumerken, ganz im Gegenteil, zahlreiche Details erschließen sich erst beim wiederholten Anschauen: Allein durch ihre differenzierte Personen- und Chorführung bewegt sich die Inszenierung handwerklich auf einem derart hohen Niveau, welches – weit über Leipzig hinaus – den allerwenigsten Premieren beschieden ist, ganz zu schweigen davon, dass Konwitschnys Werkdeutung oder die jegliche Rührseligkeit vermeidende Ästhetik an Aussagekraft eingebüßt hätten, selbst wenn die durchs Quartier Latin laufenden Tannenbäume und Geschenkpakete längst von der Realität eingeholt wurden.

Ein dunkler, nahezu leerer Grundraum genügt, um die Geschichte einer Liebe zu erzählen, deren Unmöglichkeit bereits im Moment ihres Entstehens besiegelt scheint. Ihre ersten verstohlenen Blicke lassen den Poeten Rodolfo und die schwindsüchtige Stickerin Mimi wie Teenager erscheinen, die unbedacht in ihrer ersten Verliebtheit aufgehen. Doch schon kurz nachdem sich beider Hände in der Dunkelheit gefunden haben, vermag Rodolfo nicht, für seine Gefühle bedingungslos einzutreten, flieht er immer wieder den Augenkontakt zu Mimi. In den beiden großen Arien des ersten Aktes entsteht eine seltsame Disparität aus Anziehung und Distanz, das gegenseitige Geständnis ihrer Liebe wirkt vor der nächtlichen Großstadt, die nur als ferne Lichtsilhouette auf der Hinterbühne zu erahnen ist, gar ein wenig verloren.

Fotos: Andreas Birkigt

Durch den nahtlosen Übergang zum zweiten Akt – gleich zu den ersten Takten bevölkert der Chor die Bühne, überschwebt von einer jeden Moment abzustürzen drohenden Seiltänzerin – scheint der kurze Moment ihres Glücks in dem lauten, so gar nicht weihnachtlichen Treiben des Quartier Latin vollends unterzugehen. Gerade hier spielt der Regisseur durch sparsam eingesetzte, aber deutlich überhöhte Elemente mit der ins Rührselig-Dekorative entglittenen Rezeptionsgeschichte der Puccini-Oper. Der schöne Anschein des Verismo wird aber bewusst unterlaufen, um, über eine Ironisierung weit hinausgehend, mit analytischem Blick Vorgänge und Prozesse hinter der vermeintlich oberflächlichen Handlung hervorzuschälen. Immer wieder gefriert der Chor zu unbewegten Standbildern, die starr ihre Runden auf der Drehbühne ziehen, scheint Konwitschny die Zeit anhalten zu wollen, um den Fokus auf die Protagonisten zu richten. Auf die unsichere Mimi, die sich zuerst ohne Rodolfos Gegenwehr den überlegenen Spötteleien seiner Freunde ausgesetzt sieht, aber auch auf die schillernde Musetta, die – gefolgt von ihrem ältlichen Verehrer Alcindoro – Türen knallend in den Zuschauerraum stürmt, um sich alsbald wieder mit ihrem abgelegten Liebhaber Marcello vor aller Augen zu vereinen. Die kurzzeitige Harmonie beider Paare wird allerdings vom groß angekündigten Zapfenstreich verdrängt: Musetta und die Seiltänzerin auf ihren Schultern tragend eilen die vier Bohemiens dem von einer Weihnachtsmannkapelle eskortierten Tambourmajor, ein riesiger Nussknacker mit gefährlich klappernder Kinnlade, entgegen. Zurück bleibt Mimi, im allgemeinen Jubel wird ihr verzweifeltes Winken auf dem Steg vor dem Orchestergraben von den Anderen gar nicht bemerkt, die anfängliche Komik dieser Szene verkehrt sich unweigerlich in ihr Gegenteil.

Nach der Pause setzt Konwitschny diese Gratwanderung zwischen den Extremen fort, indem er die ins sentimental-kitschige abgedriftete Rezeptionsgeschichte der Bohème konterkariert und sich immer wieder auf Elemente des ersten Teils bezieht. Die Vorstadtspelunke des dritten Aktes, in der Marcello für Kost und Logis Auftragsmotive malt und Rodolfo einen Fluchtpunkt sucht, um sich nicht mit Mimis tödlicher Krankheit auseinandersetzen zu müssen, ist nur durch eine bunt blinkende Lichterkette am linken Bühnenportal angedeutet. Zwar fällt – wie im Libretto vorgegeben – auch in dieser Inszenierung Schnee, die Gefahr des rein Atmosphärischen wird aber durch eine von der Hinterbühne bis weit in den Zuschauerraum hineinreichende Flucht aus Blechlampen gebannt. Ansonsten ist die Bühne vollends leer, das Inszenierungskonzept vermittelt sich allein über Konwitschnys im gegenwärtigen Opernbetrieb absolut rare Qualität, mit Sängern über kleinste Details ausdifferenzierte Figuren erarbeiten zu können und auch für ihre eigene Widersprüchlichkeit Ausdruck zu finden: Mimi und Rodolfo fühlten sich wohl noch nie so ineinander geborgen wie in der Erkenntnis, sich zu Beginn des Frühlings trennen zu müssen, da ihnen eine glückliche Zukunft ohnehin versagt bliebe. Ebenso wird bei Marcello und Musetta ersichtlich, wie sehr sie sich, vor dem anderen Paar in den Schnee geworfen, psychisch und physisch durch ihre eigenen Eifersüchteleien versehren. Ohne Verklärung, aber auch ohne voyeuristischen, denunzierenden Blick zeigt Konwitschny Figuren, denen es nicht zuletzt durch ihr Talent und ihre künstlerische Sensibilität verwehrt bleibt, sich den gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie ihrer eigenen Existenz zu stellen, was wiederum der unmittelbare Übergang zum vierten Akt verdeutlicht. Zu ihrem materiellen Ruin – ganz offensichtlich sind die Bohemiens auf der Straße gelandet – tritt für sie die weit schmerzvollere Erkenntnis über die Vergänglichkeit ihrer Kunst: Rodolfo notiert seine Gedanken auf einem Stenoblock, Marcello bleibt nur noch der Schnee, in dem er mit einem abgebrochenen Zweig lustlos Spuren zieht. Von der Erinnerung übermannt, winden sie sich in Embryonallage auf dem Boden, wirken wie ohnmächtige Kinder, denen Mimis Haube beziehungsweise Musettas Strumpfband als letzte Erinnerung an glücklicheren Tagen dient. Nur kurzfristig zeigen die in eine Schneeballschlacht ausufernden Tänze, zu denen sie sich mit Schaunard und Colline hinreißen lassen, als Verdrängungsmechanismus ihre Wirkung, bis Musetta mit der sterbenden Mimi erscheint. Zu spät kommt ihre selbstlose Fürsorge, reift in Rodolfo die Erkenntnis, mit Mimi auch den Sinn seines eigenen Lebens zu verlieren, nähern sich Musetta und Marcello wieder an. Mimis Tod zwingt die Bohemiens resigniert in die Isolation, verdeutlicht durch einen stummen Gang auf die Hinterbühne. Dem verzweifelten Rodolfo können sie keine Stütze sein, er selbst wagt es nicht, sich ihrem entseeltem Körper zu nähern, und bleibt gebrochen zurück.
Aber auch der Zuschauer kann sich nicht mehr oder minder gerührt in seinem Sessel zurücklehnen, denn nachdem der Guckkasten schon zuvor gelegentlich verlassen wurde, scheint die schützende vierte Wand im letzten Akt vollends außer Kraft gesetzt zu sein: In dem sich langsam erhellenden Saal wird Mimis Sterben aus der Sphäre des Intimen entrückt und für einen Moment die Fiktionsgrenze verschoben, sodass man gezwungen ist, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Statt gepflegter Sentiments herrscht allgemeine Erschütterung vor, aus der sich das Publikum – die lang empfundene Stille zwischen letztem Ton und sich erst allmählich steigerndem Applaus gibt ein beredtes Zeugnis ab – nur langsam befreien kann. Das alles überrascht, verwundert, regt zum Nachdenken an und mag – im besten Sinne – mitunter auch verstören, scheint aber dennoch die logische Konsequenz aus Puccinis ,Dramma lirico‘ zu sein, da Konwitschnys Inszenierungs-Maxime in seiner Bohème besonders deutlich zutage tritt, nämlich zuvorderst die kompositorischen Strukturen des jeweiligen Werkes zu befragen. Erst auf dieser Grundlage wird im Einklang von Musik, Libretto und Handlung eine Geschichte über die Figuren erzählt, deren individuelle und gesellschaftliche Relevanz uns alle angeht.

Musikdirektor Axel Kober, an der Oper Leipzig inzwischen mit der dritten Bohème-Wiederaufnahme betraut, ist ihm darin ein verlässlicher Partner und führt das Gewandhausorchester mit meist präziser Akkuratesse differenziert durch die Partitur, deckt aber hie und da im Forte das junge Solisten-Ensemble etwas zu, was am allerwenigsten Elaine Alvarez als Mimi zu spüren hat: Stimmlich meistert sie ihren Part bravourös, nicht zu dramatisch und findet immer wieder lyrische Momente. In der Zusammenarbeit mit Konwitschny ist ihr darüber hinaus ein Rollenporträt gelungen, in das sich neben aller tugendhafter Anmut auch immer wieder sinnliches Begehren mischt. Rodolfo ist mit dem jungen Tenor Giancarlo Monsalve besetzt, was zur Folge hat, dass Stimm-Puristen die Bravour-Arie „Che gelida manina“ als technisch noch nicht ausgereift bemäkeln würden. Seine Gestaltung der Parlando-Passagen, die kluge Haushaltung mit seinen Kräften und das angenehme, erstaunlich warme Timbre lassen aber auf eine große Zukunft in seinem Fach hoffen. Auf das Inszenierung bezogen erweist sich diese jugendliche Besetzung gar als Segen, da er fernab von tenoralen Stereotypen gerade für die Infantilität des Rodolfo Ausdruck findet, ohne – wie alle anderen Solisten auch – je ins Holzschnittartige oder gar Karikative abzugleiten. Als Marcello scheint Daniel Hällström seine Partie gefunden zu haben und zeigt mit bestechender Bühnenpräsenz sowie nobel geführtem Bariton einen durchaus intellektuellen Künstler, der seine Sensibilität hinter der Maske des Zynismus zu verbergen versucht, nicht mit, aber schon gar nicht ohne Musetta leben kann. Diese präsentiert Ainhoa Garmendia erwartungsgemäß als in jeder Hinsicht verführerisch mit koketten Koloraturen, sie findet jedoch auch immer wieder szenisch wie musikalisch leise Zwischentöne, die auf die Verletzlichkeit der Figur verweisen und ihre Musetta über die häufig erfolgende Klischierung zum Flittchen weit erhaben sein lassen. Dass der von Sören Eckhoff präparierte Chor der Leipziger Oper sich musikalisch nicht zu verstecken braucht, bedarf eigentlich keiner Erwähnung. In der Bohème-Wiederaufnahme wurde allerdings endlich einmal wieder das enorme spielerische Potential dieses Ensembles abgerufen, das in letzter Zeit allzu oft in unmotivierten Tableaus, stereotypen Gesten oder handwerklich ungelenken Auf- und Abmärschen verpuffte.

Der frenetische Schlussapplaus in der ausverkauften Oper übertrifft beinahe das Ausmaß gewöhnlicher Premieren und erweckt den Anschein, als werde diese Wiederaufnahme von Konwitschnys Bohème-Inszenierung auch als Auftakt einer kommenden Ära wahrgenommen. Und obwohl zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen ist, ob sich das Konzept, das Alexander von Maravic zusammen mit Peter Konwitschny verfolgt, in den nächsten sechs Jahren ohne Abstriche verwirklichen lässt, darf man auf eine Öffnung des Hauses gespannt sein, die sich schon jetzt bemerkbar macht: Im Abstand von nur einer Woche bot die Leipziger Oper – verbunden mit einem umfangreichen Begleitrahmen – mit dem Schönberg-Dreiteiler Moderne Menschen und der Bohème-Wiederaufnahme zwei absolut bemerkenswerte, auch überregional viel beachtete Produktionen, eine herausragende Programmdichte, die jedem großen Opernhaus zur Ehre gereichen würde. Momentan scheint die Chance zum Greifen nahe, dass die Leipziger Oper wieder – über den ,Amüsierbetrieb‘ weit hinausgehend – ein Ort für künstlerische, musikalische, aber auch gesellschaftlich relevante und intellektuelle Auseinandersetzungen werden könnte. Bleibt zu hoffen, dass diese Chance nicht kulturpolitischen Kurzschlüssen oder persönlichen Eitelkeiten geopfert wird.

In dieser Spielzeit ist Konwitschnys La Bohème-Inszenierung noch am 15. Mai, 14. Juni und 2. Juli zu erleben, eine Gelegenheit, die man sich keinesfalls entgehen lassen sollte.

La Bohème

(Giacomo Puccini)

Musikalische Leitung: Axel Kober
Inszenierung: Peter Konwitschny
Ausstattung: Johannes Leiacker
Chor: Sören Eckhoff
Kinderchor: Sophie Bauer

Oper Leipzig, April 2008


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