Jacques Offenbach: Die schöne Helena
Wiener Fassung für großes Orchester (1865)
Musikalische Komödie Leipzig, Haus Dreilinden
Inszenierung: Dominik Wilgenbus
Mit: Joan Ribalta, Ruth Ingeborg Ohlmann, Andreas Rainer & Milko Milev
Bühne: Udo Vollmer
Kostüme: Andrea Fisser
Musikalische Leitung: Roland Seiffarth
Chor, Ballett & Orchester der Musikalischen Komödie
Premiere: 26. April 2008
„Nun tanzt! Und liebt! Und trinkt! Und singt!“ – Offenbachs Schöne Helena in der MuKo
Blasphemie ist eine der bissigsten Formen der Satire. Das wusste schon der antike griechische Satiriker Lucian, der sich auch mit Hilfe des Göttervolks nach Herzenslust über seine Zeitgenossen lustig machte. Ein solcher Lucian des 19. Jahrhunderts war Jacques Offenbach. Die griechische Mythologie bot ihm die ideale Parallelwelt, aus der die Figurenpaare stammen, die er benötigte, um die heilige Bürgerlichkeit des Kaiserreichs mit ihrem grotesken Wettstreit um Erfolg, Anerkennung und Hedonismus zu verspotten. Man braucht jedoch nicht unbedingt ein humanistisches Gymnasium oder althistorische Hauptseminare besucht zu haben, um den alten Adam in seiner Schwäche hinter den überaus menschlichen Gebrechen der unsterblichen Götter (vgl. Orpheus in der Unterwelt) und der mit ihnen in Verbindung stehenden mythischen Gestalten zu entdecken (siehe Schöne Helena). Denn unsterblich sind bei Offenbach ohnehin nur die Eitelkeiten und melancholisch stimmenden Irrtümer, denen das tückische und eigennützige Menschengeschlecht nachjagt.
So gesehen ist Offenbach ein zeitloser, musikalisch-satirischer Gesellschaftskritiker wie er uns gegenwärtig fehlt. In der Leipziger Inszenierung der Schönen Helena, die am 26. April 2008 zum ersten Mal über die Bühne ging, tat man gut daran, diesen zeitlosen Zündstoff weder didaktisch noch pädagogisch zu nehmen, sondern lachend mit dem Zerrspiegel der Satire ein Selbstporträt menschlicher Mängel zu erarbeiten. Und so ist die Geschichte um die schöne Helena, die Prinz Paris als verkleideter Schäfer bei einem Orakelwettstreit gewinnt und die als Ehefrau des stumpfsinnigen Menelaos anfangs spröde gibt, im „Traum“ aber gern die Gelegenheit zum Seitensprung beim Schopf ergreift, eine hintersinnige Komödie von der besten Art augenzwinkernder Ironie.
Der entscheidende Kunstgriff, der diese Inszenierung zu einem gelungenen Spaßstreich werden ließ, bestand zum einen in der Sorgsamkeit der Bearbeitung des Librettos. Dominik Wilgenbus, mit seinem launigen „Heidi“-Musical dem Leipziger MuKo-Publikum noch in allerbester Erinnerung, hat hier eine Übersetzung und Textbearbeitung vorgelegt, die es eigentlich wert wäre, als „Leipziger Fassung“ in die Offenbachannalen einzugehen.
Denn hier ist mit leichter Hand die schwere Kunst bewältigt, aus einer eigentlich unübersetzbaren Textvorlage des 19. Jahrhunderts ein pointiertes, witziges, kokettes modernes Textbuch zu gestalten, das in aller Freiheit der Bearbeitung den Anspruch Offenbachs wahrt. Wer die verquälten, zusammengestammelten Philologenübersetzungen von Libretti kennt, in denen die Pointen nach dem Übersetzen flach und öde geworden sind wie Wüstenebenen, weiß es zu schätzen, wenn jemand es umgekehrt zu machen versteht, weil er Witz und Geist genug besitzt, dem Ganzen immer noch eins draufzusetzen. Der freundliche Applaus am Ende der Inszenierung hätte sich in hellen Jubel ummünzen lassen, wenn das Publikum durch Übertitel mehr an diesem Textvergnügen hätte Anteil nehmen können oder wenn die Textverständlichkeit vor allem in den Chorszenen durchaus noch mehr präzisiert worden wäre. Denn was Wilgenbus da eingefallen ist, hat das Zeug zum Sprichwort und zur Eselsbrücke. Zum Beispiel der selbstironische Kommentar zur Rolle des Chores in der griechischen Tragödie mit seinen skurrilen Alliterationen: „Wenn große Griechen aufmarschieren, kommt erst der Chor zum Kommentieren.“ Oder der Auftritt Nr. 7b, in dem der Chor tatsächlich singt: „Der Text passt leider überhaupt nicht zur Szene. Es sollte einfach heißen: ‚Auftritt Helene‘! Da ist sie schon! Kein Ton!“
Der zweite große Kunstgriff der Inszenierung besteht in der Präzision, mit der Wilgenbus erstens die Pointen gesetzt hat und mit der zweitens die Bewegungsabläufe funktionieren. Beinahe in jedem Einzelfall hat die Regie drittens die einzelnen, in der Vorlage genau durchdachten Rollencharaktere filigran herausgearbeitet: brutaler Militarismus, dumpfe Torheit, Eigennutz, Durchtriebenheit und Hedonismus finden ihre aktionsreich dargestellten Personifikationen. Ähnlich ironisch, wenn auch bisweilen etwas zu illustrativ oder einfarbig, korrespondieren Bühne und Kostüm zu diesen Stereotypen.
Ein paar Leitmotive von Wilgenbus, die MuKo-Besucher schon aus Heidi kennen, kehren auch hier wieder: Die Stimme aus dem Off etwa, die das Geschehen erklärt und als sprechender historisch-kritischer Kommentar immer dann auftritt, wenn ein Stichwort gefallen ist, das keiner so ohne Weiteres versteht. Dann hilft „Ihre freundliche Stimme von oben“ allen Unkundigen auf die Sprünge. Auch die Art, Geräusche als Effekte zu verarbeiten, kennen Heidi-Besucher schon.
Aber vor allem bewährt sich Wilgenbus‘ Blick fürs groteske Detail auch diesmal wieder aufs Beste: Das Lösungswort des Orakelrätsels, das Paris die schöne Helena zum Gewinn beschert, lautet in Leipzig „Ziehtitunnel“ (Citytunnel) – und schon hat das Ensemble die Lacher auf seiner Seite. Als der Tunnel auch noch von dem geldgierigen und verschlagenen Oberpriester (mit Schweinemaske) als Opferloch bezeichnet wird, ist die französische Politsatire Offenbachs perfekt auf gegenwärtige lokale Zusammenhänge übertragen. Schön auch, wie beim Urteil des Paris alles Griechenvolk mit Jo-Jo-Äpfeln spielt, wie Paris als Hirte ein Zicklein aus Plüsch streichelt, originell und vorzüglich ausgespielt die Rolle des lebenden Würfels in der Gänsespielszene. Und so reiht sich eine Pointe an die andere. Kurzum: Das Publikum amüsiert sich prächtig und sogar in albernen Passagen, in denen Slapstick vorherrscht, finden sich immer eine ganze Menge Zuschauer, die darüber herzhaft lachen können. So soll es sein. Denn die Leute zum Lachen zu bringen, soll schließlich das Ziel eines Abends in der Musikalischen Komödie bleiben. Dominik Wilgenbus hat dies nicht nur erfolgreich angesteuert, sondern es auch geschickt verwirklicht. Die meisten dieser Szenen, die am Anfang allerdings noch etwas an Tempo gewinnen könnten, sind so komisch, dass man einfach darüber lachen muss, selbst wenn man sich vorgenommen haben sollte, ernst zu bleiben.
Musikalisch trägt der Dirigentengrandseigneur Roland Seiffarth mit dem Augustusplatz reifen MuKo-Orchester Chor und Sänger auf Händen. Gespielt wird eine Wiener Fassung für großes Orchester von 1865, die unter Anderem um Arie Nr. 19b reicher ist. Ruth Ingeborg Ohlmann ragt als Koloraturen schwingende Helena naturgemäß heraus, Joan Ribaltas als Paris spielt hingegen sehr gut. Chor, Orchester und Ensemble gelingen schwungvolle, temporeiche und mitreißende Szenen, die in den Offenbachschen Ohrwürmern ihren Höhepunkt haben. Jederzeit hat der Zuhörer dieses Orchesters das Gefühl, eine komische Oper zu hören, leicht, beschwingt und doch an den besten Stellen voller Ernst und Tiefsinn. Summa summarum kann man in dieser Leipziger Schönen Helena einen Eindruck davon gewinnen, wie es sein könnte, wenn Wielands Abderiten, jene verwegenen antiken Schildbürger mit dem geistreichen Charme des 18. Jahrhunderts plötzlich nach Leipzig gekommen wären, um uns Lebenden einen Spiegel vorzuhalten – so wunderbar selbstironisch ist diese Inszenierung durchgearbeitet. Es wäre wünschenswert und aufschlussreich, mehr von dieser Art zu sehen.
(Sebastian Schmideler)
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