„Wir leben in einer anderen Zeit als die Kollegen Schumann oder Bach”

Komponist Bernd Franke zur Uraufführung von „lines (II)” beim „Hof Klang 08”

Steffen Kühn: Für mich ist es ein ganz besonderes Gefühl, heute die ersten drei Stimmen von lines (II) hier im Mendelssohnhaus in den Händen halten zu können. Hat doch im Mendelssohnhaus die Entwicklung des Leipzig-Almanach und ihres Trägers der Gesellschaft für Kunst und Kritik e.V. ihren Anfang genommen. 1999 haben eine Handvoll Musikenthusiasten ein Forum geschaffen, sich über Kunst respektive Musik auszutauschen und durch Förderung und Organisation von Konzerten das Musikleben Leipzigs aktiv mitzugestalten. Lieber Bernd Franke, welche Bedeutung hat für Sie so ein Ort wie das Mendelssohnhaus, spüren Sie, verarbeiten Sie die Einflüsse Bachs, Mendelssohns und Schumanns in Ihrem Schaffen?

Bernd Franke: Natürlich ist das Leipziger Mendelssohnhaus ein wunderbarer Ort mit einem einzigartigen Ambiente, voller Geschichte und Kultur, einem besonderen Geist, einer sehr speziellen Aura. Da mein Unterrichtsraum und mein Büro sich in der dritten Etage im Mendelssohnhaus befinden, was weltweit ja wirklich einzigartig für ein Institut für Musikwissenschaft ist, erlebe ich diese Geschichte quasi täglich hautnah. Ich vergegenwärtige mir beim Treppensteigen oder beim Unterrichten oft die Besonderheit dieser Situation, auch beim Spazierengehen in Leipzig. Man begegnet auf Schritt und Tritt großer Musikgeschichte, aber das ist halt auch Geschichte und Vergangenheit. Die Einflüsse von Bach, Mendelssohn oder Schumann verarbeite ich in der Regel wie jeder andere Komponist in der Welt, mal mehr, mal auch weniger. Um es klar zu sagen: Ich fühle mich überhaupt nicht als Leipziger Komponist, ich bin ein deutscher Komponist in Europa mit Interesse für die verschiedensten Weltkulturen und Strömungen.

Bei aller Wertschätzung dieser Komponisten darf man ja nicht vergessen, in welch grotesker Situation wir uns am Anfang des 21. Jahrhunderts befinden. Das Neue interessiert derzeit kaum, das Vergangene, ja zum Teil Museale nimmt noch immer ein völlig absurdes Übergewicht in der Musikpraxis ein. Es gibt Musiker, die behaupten doch tatsächlich, sie bräuchten keine lebenden Komponisten für ihr irdisches Dasein und ihre tägliche Existenz, weil ihnen die Klassiker absolut genügen würden. Man hat ja…

Gerade in Hinblick auf Mendelssohns und Schumanns Leben, Wirken und ihren enormen Einsatz für die Avantgarde, für das NEUE in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt einem immer wieder dieses Ungleichgewicht und sogar eine gewisse Perversion auf. Es schmerzt mich auch sehr, dass den Mitabeitern im Mendelssohnhaus anscheinend finanzielle Mittel für die GEMA und vielleicht auch der Mut fehlen, wirklich innovative Dinge in diesem Haus voranzutreiben und damit auch dem Geist von Mendelssohn eher zu entsprechen. Ich bin viel zu sehr mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftigt, als dass ich die Leipziger Vergangenheit immer nur als Museum betrachten könnte.

Es existiert für uns lebende Komponisten des 21. Jahrhunderts ein weiteres Problem: Das ist das derzeitige Übergewicht der Klassik und vor allem der Romantik beziehungsweise der Romantik-Verklärung – ein für uns heutige Menschen völlig anderes Weltbild und Weltverständnis. Die Symbole und Ausdrucksformen dieser Zeit entsprechen nicht mehr unserem Lebensgefühl und unserem Zeitgeist, dem Verständnis einer modernen Gesellschaft. Das patriarchalische Herrschaftssystem eines Orchesters, das Übermaß des romantischen Klanges gegenüber der Linie oder anderen ästhetischen Klang- und Tonsystemen, das Guckkastenprinzip des alten Konzertsaales, die Starre und das Ritual der Aufführungsformen, all das bedarf dringend einer Veränderung. Sicher nicht momentan, dafür ist die gesellschaftliche Entwicklung zu neokonservativ und instabil, aber es muss und wird irgendwann kommen.

S.K.: Ich bin überaus glücklich, dass unser geistiger Austausch über die konkreten Aufführungsbedingungen von aktueller Musik, die Frage nach Vermittlung und vor allem die Einbeziehung des speziellen Klangraumes zu Ihrer neuen Komposition geführt hat. Was hat Sie an dem Projekt Hof Klang von Anfang an interessiert?

B.F.: Mich hat die unkonventionelle Herangehensweise an das Erlebnis Konzert, aber besonders natürlich der Spielort selbst interessiert – also der Hof an sich. Dann das ungewöhnliche Ambiente, die Geschichte des Hauses, des Viertels, auch die Beteiligung von innovativen und offenen MusikerInnen am Projekt, die sehr professionelle langfristige Vorbereitung schon ein Jahr vor dem Konzert.

S.K.: Vielleicht können Sie kurz die Grundlinien von lines (II) erläutern, insbesondere die Einbeziehung der speziellen räumlichen Möglichkeiten. Sie sprachen auch von geschichtlichen Bezügen und der jüdischen Vergangenheit des Ortes am historischen Brühl in Leipzig.

B.F.: Im Juli 2007 hatte ich Besuch von einem befreundeten jüdisch-amerikanischen Dirigenten aus New York. In diesen Tagen fanden in Leipzig die Tage der jüdischen Kultur statt und ich lud meinen Gast ein zu einem Stadtrundgang auf den Spuren der Leipziger Juden. Meinen Gast und mich hatte dieser Rundgang sehr beeindruckt, ich erfuhr viel Neues über die Nikolaistraße und ihre Geschichte, auch über das Haus des Hof Klang-Projektes. Kurz danach erhielt ich den Kompositionsauftrag zu Hof Klang 2008 und konnte diese frischen emotionalen und geistigen Eindrücke von der Stadtführung sehr bewusst und direkt in meine neue Komposition lines (II) einfliessen lassen. Jüdische Musiker und jüdische Kultur haben mich schon immer sehr stark beeinflusst und geprägt. Gerade in der Nikolaistraße spürt und ahnt man bei näherem Betrachten der Häuser und der Umgebung noch immer etwas von der besonderen Geschichte dieses Ortes, von der Kultur, dem Handel, der späteren Tragik der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung vieler Leipziger Juden.

In meiner fünfsätzigen Komposition werden in zwei Sätzen Fragmente aus einem Buch mit Synagogen-Gesängen zitiert. Diese Gesänge wurden von S. Lampl, dem Oberkantor der Jsr. Religions-Gemeinde Leipzig, herausgegeben und häufig in Leipzig aufgeführt. Lines (II) ist ein organisches Netz aus vielen verschiedenen Chiffren und Energieströmen, ein pulsierendes und schwebendes Klanggebilde aus verschiedensten Linien, welche sich zum Teil überlappen, vernetzen, stören, in Bewegung bringen, Spiralen bauen und Klangtürme, aber auch den Hof entdecken mit seinen Klang- und Energiemöglichkeiten.
S.K.: Die Besetzung des Stückes darf man wohl als ungewöhnlich bezeichnen. Nach unseren ersten Gesprächen und den zauberhaften vokalen Erfahrungen bei Hof Klang 07 hatte sich ja schnell die Idee einer Komposition entwickelt, in welcher eine Stimme eine tragende Rolle spielt. Weshalb konnten Sie sich mit meinen Vorschlag, ein Stück für Knabensopran zu schreiben, so schnell anfreunden?

B.F.: Ein Knabensopran war und ist von der Klangfarbe, der Aura und dem Gestus schon immer etwas Besonderes, eine Herausforderung. Ich kannte „meinen“ Interpreten schon durch verschiedenste Aufnahmen, sodass ich Elmar seine Stimme quasi auf den Leib geschrieben habe. Die Zitate aus dem jüdischen Gesangsbuch werden ohne Text zitiert und fragmentiert, dadurch und durch die besondere Klangfarbe entsteht eine quasi zeitlose Ebene innerhalb des brüchigen und wechselvollen Stückes. Die Besetzung innerhalb von lines (II) ergab sich durch die Dramaturgie der Komposition und durch die „Vorgabe“ mit dem brillianten Kontrabassisten Tobias Lampelzammer. Nach jedem Sopransolo „antworten“ auf einer anderen Ebene, hier im Hof sind es die Balkone, jeweils zwei Echoinstrumente, die Klarinette und die Trompete. Auf dem „ground“ entsteht ein Pulsband zwischen Kontrabass und Cello, beide sind räumlich weit voneinander entfernt. Sopran, Kontrabass, Violine und Schlagzeug/Vibrafon bilden ein auch räumlich gebundenes und gemeinsam positioniertes Quartett.

S.K.: Ich bin wirklich sehr gespannt auf die räumlichen Differenzierungen in unserem Konzert am 3. und 4. Juli 2008. Hat es für Sie beim Komponieren eine große Rolle gespielt mit den räumlichen Möglichkeiten des Hofes in der Nikolaistraße 47 arbeiten zu können?

B.F.: Wie oben schon erwähnt: JA! Es war extrem inspirierend, den Hof in seiner Eigenheit zu erfühlen, zu „ertasten“, auszuprobieren. Dieses organische Klangnetz mit seinen Linien, Pulsen, Bändern, Echos, Energiefeldern, Spiralen wäre ohne diese Vorgabe so nicht entstanden und ist dadurch bedingt auch sehr besonders.

S.K.: In Ihren Kompositionen lassen Sie den Interpreten sehr viel Freiheiten, oft erfinden Sie „nur“ Rahmen, die konkrete Auslegung ist subjektiv und wird von Aufführung zu Aufführung sehr unterschiedlich sein. In diesem System des Aufeinanderhörens/Aufeinanderreagierens des Ensembles wird ein Dirigent nicht mehr gebraucht, steckt eine bewusste Intention dahinter, auf die klassische Hierarchie zu verzichten?

B.F.: Das ist nicht ganz korrekt. Ich gebe schon (fast) alles an Parametern vor, es wird selten improvisiert oder grafisch notiert, aber die Art und Weise der Organisation einer Komposition ist anders als in der Tradition. Es gibt bei mir in der Kammermusik kaum noch Partituren im klassischen Sinne. Die Werke sind größtenteils als Stimmen notiert, die Musiker geben sich entweder gegenseitig die Einsätze (wie auch bei lines (II)) oder es existiert ein innerer timecode oder man verwendet sogar Stoppuhren zur Koordination von Stücken.

Wie schon angedeutet: Wir leben in einer anderen Zeit als die Kollegen Schumann oder Bach und wir alle wollen sicher auch nicht mehr die alten sozialen Strukturen des 18. oder 19. Jahrhunderts wiederhaben. Also müssen sich doch neue soziale Ideen von mehr Flexibilität, individueller Freiheit, parallelen Lebensweisen und Pluralismus auch in musikalischen Formen, Organisations- und Aufführungsstrukturen widerspiegeln. Oder?

Programm Hof Klang© 08:Teil 1

Giacinto Scelsi (1905-1988)
Okanagon (1960) für Harfe, Tam-Tam und Kontrabass

Bernd Franke (geb.1959)
lines (II) (2008) für Knabensolo / Sopran, Kontrabass und Ensemble (Violine, Cello, Schlagzeug, Klarinette, Trompete)
Uraufführung
Auftragswerk der Gesellschaft für Kunst und Kritik e. V.Teil 2

CFM
Stapes (2008) elektroakustische Musik
Uraufführung
Auftragswerk der Gesellschaft für Kunst und Kritik e. V.

Iannis Xenakis (1922-2001)
Theraps (1975-76) für Kontrabass solo

Iannis Xenakis (1922-2001)
Psappha (1975) für Schlagzeug solo

Veranstalter / Produktion: kister scheithauer gross architekten und stadtplaner gmbh

Organisation / Grafikdesign: METHODE21

Catering / Technische Realisierung: Casablanca Event

Rechtliche Beratung: KNPP

Kulturpartner: MDR

Sponsoren: AHW, ZWP, Schwerdtner Immobilien und Hausverwaltung

Künstler:
Bernd Franke, Komponist
Cornelia Frederike Müller, Soundkünstlerin
Tobias Lampelzammer, Kontrabass
Gerd Schenker, Schlagzeug
Elmar Kühn, Knabensopran

Studierende der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“

Im Gespräch: Hof Klang© 2008
Bernd Franke über die bevorstehende Uraufführung von lines (II) zu Hof Klang© 08 am 4. Juli 2008 in Leipzig

Idee & Konzeption Hof Klang©: Steffen Kühn
Träger: Verein für Kunst und Kritik e.V.

7. Mai 2008, Mendelssohnhaus Leipzig



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