Weltklassemusiktheater: Chailly inszeniert „Manon Lescaut” (Sebastian Schmideler)

Giacomo Puccini: Manon Lescaut
Urfassung von 1893
Oper Leipzig
Inszenierung: Giancarlo del Monaco
Musikalische Leitung: Riccardo Chailly
Mit: Sondra Radvanovsky, Alexandrs Antonenko, James Moellenhoff u.a.
Gewandhausorchester, Chor der Oper Leipzig
Premiere: 9. Mai 2008


Weltklassemusiktheater

Immer wenn Riccardo Chailly an die Oper Leipzig kommt, wird es dramatisch. Auch in dieser Spielzeit wieder garantiert der Italiener ein Wechselbad großer Leidenschaften. Musikalisch war das Ergebnis seiner Arbeit überwältigend: Tosender Applaus, frenetischer Jubel, stehende Ovationen und das sechzehn Minuten lang – Szenen, wie man sie nur von den großen Opernhäusern der Welt kennt. Am 9. Mai 2008 durfte sich die bis auf den letzten Platz ausverkaufte Oper Leipzig einen Moment lang mit vollem Recht groß fühlen. Denn der Generalmusikdirektor hatte der Musikstadt zum Puccini-Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk gemacht. Der diesjährige seiner wohldosierten Auftritte auf der anderen Seite des Augustusplatzes war der Urfassung von Puccinis Manon Lescaut von 1893 gewidmet. Der Stardirigent überreichte sein kostbares Präsent in geschmackvoller Geschenkverpackung und servierte es dem Leipziger Publikum auf dem silbernen Tablett.

Denn Chailly lässt musikalisch keine Wünsche mehr offen. Es entsteht Weltklassemusiktheater von der ersten bis zur letzten Note. Man reibt sich verwundert die Augen und erkennt: Es ist alles möglich an diesem Abend. Das Orchester strahlt in astraler Klarheit bis in die Nuancen und liest Chaillys Intentionen von seinen Händen ab, die er wie ein Klangmagier bewegt. Diese bravouröse Leistung steht am Ende einer langen konzentrierten Auseinandersetzung des Dirigenten mit Puccini. Für seine herausragenden Interpretationen des Verismo-Italieners ist Chailly international ausgewiesen. Dass er auch Leipzig an seinem besonderen Können Anteil nehmen lässt, ist seiner Neugier zu verdanken, ausprobieren zu wollen, wie dieses Instrument des Gewandhauses mit dem auf das große Orchester in allen Facetten und Spielarten spezialisierten Puccini klingen mag.

Was Chailly und das Orchester leisten, ist mehr als staunenswert. Denn das Orchester bildet das ganze Spektrum der Leidenschaften und Aktionen und die Leitmotivik mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit ab und beweist, dass die Fortschritte der letzten Jahre auch der Oper zu gute kommen können. Es ist an diesem Abend sowohl ungewohnt feinsinniger Begleiter, umsichtiger Kommentator als auch Spiegel der großen Empfindungen. Spannung, Dramatik, große Gefühle erzeugt es akkurat. Einen Gewandhauskapellmeister, der so leidenschaftlich für die Idee der Oper lebt und dabei so besessen auf Qualität achtet, hat Leipzig nicht einmal unter Mendelssohn gehabt, der bekanntlich mit seinem Weggang von Düsseldorf genug vom Theater hatte. Die Sache der Oper so Ernst zu nehmen, dass sie Kraft, Intensität und Können der besten Musiker dieses Orchesters bündelt, ist das persönliche Verdienst von Chaillys Leidenschaft und Inspiration. Denn in den schönsten Momenten des Abends, dem vierten Akt der Oper, wird auch spürbar, dass der Dirigent schon einmal am Tisch der Götter gespeist hat. Das Musiktheater Puccinis wird in diesen Momenten zum Schauplatz, auf dem sich Schicksalsmusik abspielt, die den Zuhörenden ergreift, weil sie ganz ohne große Heroenpose, allein durch Natürlichkeit mit den Mitteln der Musik an den letzten Dingen rüttelt: Vergänglichkeit des Lebens, Verstrickung, Sterben, Tod im Kontrast zur Macht der Liebe und von Glanz und Genusssucht – wen auch das noch kalt lässt, für den ist die Gattung Oper gestorben.

Mit Sondra Radvanovsky als Manon und Aleksandrs Antonenko als Des Grieux konnten zwei jüngere, überaus hoffnungsvolle Talente auf dem Übergang zur Spitze der internationalen Karriere für die solistischen Partien gewonnen werden. Sie stellten mit großer persönlicher Bescheidenheit ihre Stimme in den Dienst der Sache und leisteten Heldenhaftes. In sicherer Intonation arbeitet Radvanovsky schöne, unangestrengt wirkende Melodienbögen und Aufgänge heraus, von großer Anmut und von viel Geschmack zeugt ihre dynamische Gestaltungsfähigkeit. Bewundernswert ist aber vor allem, dass ihre Stimme die dargestellten Gefühlslagen mit einer ungewöhnlichen Echtheit und Wirkungskraft verlebendigt. Sie gebraucht die Stimme als ein bewegliches schauspielerisches Organ und zwar so überzeugend, dass der häufig an Solisten störende Gedanke an die unechte theatralische Pose und Geste gar nicht erst aufkommt. Die Reinheit des Tons und der Phrase wird stets gewahrt, obwohl Radvanovsky selbst in Augenblicken unerträglicher Verzweiflung stets frei gestaltend singt. Darstellerische Begabung vermittels der Stimme und technisches Können sind hier zu harmonischer Einheit größtmöglicher Natürlichkeit verschmolzen. Deshalb gelingt es ihr, Manons Leiden an ihren Leidenschaften so treffend als ein Hin- und Hergerissensein zwischen dem Begehren und Verzehren zu charakterisieren. Dies gilt in gleicher Weise für Aleksandrs Antonenko, dessen Stimme mit kraftvoller Größe leuchtet und zwischen dem leidenschaftlichen Verzehren für Manon und der sich selbst aufgebenden Entschlossenheit seiner großmütigen Handlungen folgerichtig changiert. Antonenko hat nichts von den schmetternden Heldentenören, die nur auf Brillanz und Kraftmeierei aus sind. Er durchkämpft diese Mordspartie mit Konzentration und Ernst, was man seiner Stimme aber nicht anmerkt, so natürlich wirkt sein Gesang. Schön zu sehen und zu hören war auch, dass das Ensemble-Mitglied James Moellenhoff – für seinen Osmin noch in bester Erinnerung – sich mit seiner Interpretation des singenden Geldsacks (der Steuerpächter, von dem sich Manon aushalten lässt) an dieser hohen Skala, die seine jungen Kollegen vorgeben, mühelos messen lassen kann.

Die besondere Leistung des Regisseurs Giancarlo del Monaco bestand vor allem darin, die schauspielerischen Fähigkeiten des Chores und die darstellerische Entwicklung der Figurencharaktere wiederentdeckt und in ihre angestammten Rechte gesetzt zu haben. Die Chorszenen sind deshalb besonders bedeutend, weil sich die von Chailly ausgewählte Urfassung durch ein halsbrecherisches Chorfinale am Ende des ersten Aktes von den späteren Fassungen unterscheidet. Es galt zu Lebzeiten des Komponisten als so schwierig, dass er es gestrichen und ein neues Finale geschrieben hat. Der Leipziger Chor meistert diese Passage nicht nur bravourös, er versteht es überdies noch, sein allzuoft ungenutztes darstellerisches Potenzial in den großen Szenen bewegungsfreudig und detailrealistisch auszuspielen. Hier hat der Regisseur an die besten Leipziger Regietraditionen angeknüpft. Mehr ist nicht zu wünschen. Anhand der besten Chorpassagen an diesem Abend hätte man den Sekundenzeiger einer präzisen Uhr stellen können. Nur so war es möglich, die komplexe Linienführung dieser groß angelegten Abschnitte mit diesem Erfolg zu bewältigen.

Giancarlo del Monaco erkennt, dass in dieser Manon nicht mehr viel von der geschmackvoll agilen Rokoko-Vorlage des Abbé Prevost übrig geblieben ist. Puccinis leidenschaftliche, melodiöse Gefühlsschwelgereien sind Historiengemälde des späten 19. Jahrhunderts. Del Monaco tat gut daran, diese Genreszenerie etwas zu versachlichen, indem er die Szene in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts nach Frankreich verlegte. Er charakterisiert diese Zeit damit als Epochenumbruch, der sich nicht zuletzt in der Entdeckung eines neuen Mediums manifestiert: der Stummfilm. So heißt der Ort des Geschehens Café du Cinéma und so lässt del Monaco am Beginn des zweiten Aktes einen rührenden Auszug aus dem Stummfilm Manon Lescaut von 1926 auf die Bühne projizieren, der die Schwere des 19. Jahrhunderts in Puccinis Musik ironisieren und erträglicher zu machen hilft. Die Leute des Cafés im ersten Akt repräsentieren die Unterhaltungskultur des 20. Jahrhunderts. Den Chor lässt del Monaco filmisch auftreten, mit Aktionismus und angehaltenen Bildern. Denn als Des Grieux und Manon ihre Liebe entdecken, erstarrt das aktionsreiche Tableau, das Bild wird für die Dauer der Liebesszene angehalten, die Zeit eingefroren – ein Moment der Ewigkeit und ein hübsches Bild. Den reichen Steuerpächter charakterisiert del Monaca im zweiten Bild hingegen als Kapitalisten des 19. Jahrhunderts mit Zylinder und industrieller Schlotbaronenattitüde, der Manon mit schweren roten Kleidern ausstattet. In seinem Palais herrscht das verführerisch bunte, luxuriöse Rokoko vor. Hier treten auch Kostüme des 18. Jahrhunderts in Erscheinung, doch hinter den Fassaden lauert das düstere, schwarze 19. Jahrhundert in Gestalt des Chores mit Zylinder und schwarzen Mänteln. Der Ballettmeister tauscht demgemäß das weiße Kissen mit dem schwarzen. Die Wüstenszene des letzten Aktes schenkt del Monaco den beiden Solisten, taucht die Bühne in tiefdunkles Orange und lässt dem Schicksal seinen Lauf.

So ist Puccinis Manon Lescaut unter Chailly ein triumphaler musikalischer Beweis dessen, was Musiktheater in Leipzig leisten könnte. Aber bekanntlich macht eine Schwalbe noch keinen Sommer. An diesem Abend wurde das Leipziger Publikum mit Nektar und Ambrosia verführt. Doch viele Opernfreunde fragen sich kritisch, ob es stattdessen bald wieder Schwarzbrot mit Leberwurst geben wird. Und ob die Leberwurst dann auch noch beleidigt ist? – Keine Frage: Die Oper Leipzig befindet sich am Scheideweg. Es wird vom diplomatischen Geschick aller Akteure in diesem Reigen abhängig sein, ob dieser Abend ein Wendepunkt auf dem Weg zum musikalischen Parnass sein kann oder ob diese glanzvolle Aufführung nur ein einsamer musikalischer Höhepunkt bleibt, auf den man noch lange staunend zurückblicken wird.

(Sebastian Schmideler)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.