Neue Gleichungen

Rosemarie Zens‘ Gedichtband „Eingeschrieben in Kohlenstoff“ zeugt von wachem Geist und der Bejahung der Kunst

Manchen Büchern passiert es, dass sie eine Zeit lang übersehen werden, eine Folge der Überfülle auf dem Buchmarkt. Aber letztlich findet man doch zu ihnen. Denn im Grunde führt kein Weg daran vorbei, ist man erst einmal so weit gegangen, sie aufzuschlagen. Eins dieser Bücher mit Tiefenwirkung ist Rosemarie Zens‘ Gedichtband Eingeschrieben in Kohlenstoff.
In den Gedichten, die eine Auswahl aus Zens‘ Schaffen darstellen, offenbart sich ein wacher Geist, und bereits der erste Text „Langer Atem“ spiegelt den Leser: Was sind wir anderes als Betrachter, die sich ein eigenes Bild machen? Bei Rosemarie Zens ist das Bild sehr eigen: Viel Sand, Klippe, Meer und Wort, Baum und Wanderdüne, kristalline Wirbel, verzweigte Nervensysteme. Dabei können die Notationen nach der Natur, so der Untertitel ihres 2004 beim Verlag Die Scheune erschienenen Gedichtzyklus‘ Oberhalb der Solarsegel durchaus auch die menschliche und die tote Natur betreffen, wenn etwa „Auf dem letzten Freitagsflohmarkt“ zerbrechliche Dinge und Schädel veräußert werden.
„Was wiegen die Wolken / Wie entdecken sie ständig / Neue Gleichungen /…“ fragt Rosemarie Zens und ironisiert den naturwissenschaftlichen Ansatz, alles wägen und wichten zu wollen. Nicht die Menschen sind es, die neue Gleichungen entdecken, sondern gerade die Wolken, jene nebelhaften Gebilde, die verhüllen und in denen sich kaum etwas erkennen lässt. Nicht wenige der oft philosophisch anmutenden, fein gearbeiteten Gedichte im Band ranken sich um das Geheimnis der Wahrnehmung. Was wird erkannt, was erinnert, was nehme ich im wahrsten Sinne des Wortes wahr? Lakonisch heißt es in „Absage: “ … / So wird es gewesen sein“ und in dem Gedicht „So oder so“: „… / So oder so ähnlich / Wird es gewesen sein“.
Dass vieles verschieden les- und erkennbar ist, wird auch ganz formal durch einen wiederholten Kunstgriff in Szene gesetzt: Mit einem geschickten Zeilenbruch und Worten/Wortgruppen, die sich zugleich in verschiedenen Sinnzusammenhängen lesen lassen. „… / Die ungeraden Linien / Bewahren den Rahmen / braucht das Bild / …“ Auf diese Weise werden die Texte vielschichtig, und enthüllen bei aller Knappheit auch beim zweiten und dritten Lesen ein neues Gesicht. Das aber müssen sie, wollen sie jenem poetologischen Credo gerecht werden, das in „Die Kunst der Fuge“ formuliert ist: „Damit tonangebend nichts unverwandelt / Gerettet werden kann die Kunst der Fuge“.

Kunst als Moment der Rettung – und wenn es nur darum geht, das Unmögliche zu versuchen. In einem wunderbaren, sentenzenhaften Gedicht bringt Rosemarie Zens ihre Lebens- und Kunstbejahung auf den Punkt:

Hellwach

Bleiben wir
Beim Versuch das Lied

Mit dem Mantel
Einzufangen

Kann ein Versagen
Versprechen sein

Rosemarie Zens: Eingeschrieben in Kohlenstoff – Ausgewählte Gedichte
Rimbaud Verlag
Aachen – 2007
64 S. – 15 €
www.rimbaud.de

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