Wut und Schmerz als Klangrausch

Sludge-Band Neurosis nach über 10 Jahren mal wieder in Leipzig

Manchmal ereignet sich etwas ganz Besonderes, da wird Leipzig plötzlich zum Anziehungspunkt für Musikfans aus ganz Europa. Fast 10 Jahre ist es her, dass die Helden des Sludge-Metal Neurosis eine Show in Deutschland spielten und nun führte sie ihre Tour für das aktuelle Album Given to the Rising (2007) für gerade einmal vier Gigs in unsere Breitengrade. Neben Köln und München machten sie auch in Leipzig Station, wo sie gleich für zwei Shows im UT Connewitz zu Gast waren. Hier in Leipzig haben sie nach Eigenaussagen die beste Show aller Zeiten gespielt, damals Anfang der 1990er Jahre im Eiskeller (Conne Island) nach Erscheinen ihrer bekanntesten Platte Souls at Zero, die bis heute zu den unbestrittenen Klassikern der Hardcore- und Metal-Musik zählt.

Begonnen haben Neurosis in Oakland, Kalifornien, im Jahre 1985 mit einer Mischung aus Hardcore und Punk. Dem blieben sie auf den beiden ersten Alben Pain of Mind (1987) und The Word as Law (1990) noch eng verbunden. Doch brachen sie danach mit Souls at Zero (1992) in neue Gefilde auf und wurden zu den Gallionsfiguren des sich zu dieser Zeit aus der Metaller-Ecke herauskristallisierenden Sludge und Doom Metal. Immer ihren eigenen Ideen von dunkler, aufwühlender, mitreißend-brachialer Musik folgend inspirierten sie viele weiteren Bands in diesem Genre des „Post Metal“ wie Isis, Red Sparowes, Mastodon uvm.

Während die Alben bis in den Anfang des dritten Jahrtausends noch der brachialen Veräußerung von Wut auf die Welt in schrägen, schleppenden Rhythmusläufen und harten Gitarrengewittern gewidmet waren, orientierten sich die jüngeren Alben A Sun that Never Sets (2001) und The Eye of Every Storm (2004), nicht zuletzt durch die Hinwendung der Bandmitglieder zu spirituellen Strömungen, mehr und mehr zu psychedelischen Klanggeburten und atmosphärischem Gewaber, was immer wieder Namen wie „Psycho Metal“ erhielt.

Die aktuelle Scheibe Given to the Rising (2007) schafft hingegen einen genialen Spagat zwischen dem Beibehalten von klanglich dichten, effektvollen Soundlandschaften und der Rückwendung zur entfesselten Brutalität krachiger Gitarrenabfahrten und harter Bassläufe. Selbst nach acht Studioalben verschlingt den Hörer nach wie vor die Düsternis der Klangteppiche. Es sind Sinfonien der Qual und des Leids, die den Geist des Hörers einsaugen und in beklemmende Visionen einer hoffnungslosen Welt entführen. Kurz: Die Musik von Neurosis ist ganz großes Kopfkino für die an der Welt Verzweifelnden.

Die beiden Shows im UT Connewitz waren schon Wochen vorher binnen kürzester Zeit ausverkauft. Leider hatten einige Leipziger das Nachsehen, da keine Karten im offenen Vorverkauf vertrieben wurden und nur ein kleines Kontingent in der dem UT vorgelagerten Buchhandlung zu erwerben war. Der große Rest ging über eine E-Mail-Reservierungsliste weg. So schön das UT als Veranstaltungsort auch sein mag, so ist es doch bei einem Fassungsvermögen von nur rund 400 Menschen viel zu klein für den Bedarf bei einer Band wie Neurosis. Allerdings passte das wieder in den Selbstanspruch von Neurosis als Undergroundband, die sich trotz weltweiten Erfolgs durch die Gründung des eigenen Labels Neurot Recordings den Majors der Szene entzogen.

Zudem verschlug es den Frontmann, Gitarrist und Sänger Scott Kelly mit seinem Soloprojekt im April dieses Jahres schon ins UT. Neurosis-Videokünstler Josh Graham spielte mit Red Sparowes ebenfalls schon dort. Deren Staunen über diesen wunderschönen Konzertort wird wohl den Ausschlag gegeben haben, dass sich Neurosis selbst an das Veranstaltungsmanagement in der Wofgang-Heinze-Straße wandten.

Das Vorprogramm dauerte fast eineinhalb Stunden, in denen erst „The Winchester Club“ aus England soliden bis mittelmäßigen Instrumental-Post-Rock á la „Mogwai“ präsentierten. Danach stimmten „A Storm of Light“ mit schweren und brutalen Doom-Metal-Abfahrten schon sehr viel eindringlicher auf den ersehnten Hauptakt des Abends ein. Josh Graham singt und spielt in dieser Band Gitarre, der sich bei Neurosis für die beklemmenden Leinwandprojektionen verantwortlich zeichnet und auch schon Visuals für Gruppen wie Isis und Dillinger Escape Plan produzierte. Das UT Connewitz als altes Kino passte daher perfekt zur Bühnenshow von Neurosis.

Wortlos betraten Scott Kelly (Gitarre, Gesang), Dave Edwardson (Bass), Jason Roeder (Schlagzeug), Steve Von Till (Gitarre, Gesang) und Noah Landis (Keyboard) die Bühne. Die folgenden eineinhalb Stunden waren ein Trip durch die musikalischen Ausgeburten dieser absoluten Ausnahmeband. Ihre Klangwelten schafften eine seltsame, faszinierende Melange aus Wut, Euphorie und Hoffnungslosigkeit. Langsame, sich steigernde Parts, in denen sich zaghafte Melodien andeuteten, schraubten sich hinauf in dunkle Höhen, um dann in brachiale Gewitter zu münden, die alle positiven Emotionen verschütteten und pure Wut in die arg belasteten Gehörgänge der Zuhörer niederfahren ließen. Es schien, als seien die Boxen mit Absicht besonders laut aufgedreht, denn Schmerz, Qualen und Leid, seit jeher die großen Themen ihrer Lieder, waren an diesem Abend sogar physisch zu spüren. Weit ausladend ließen sich die Songs dann tief fallen in die schwere Melancholie der dunklen, rauen Stimmen von Scott Kelly oder Steve Von Till. Es schien so etwas wie erschöpfte Zerbrechlichkeit auf, leise Hoffungsfunken schimmerten wieder, nur um von der bebenden Wut brachialer Gitarrenwände in sich ständig verschraubenden und verstärkenden Soundzyklen hinweg gerissen zu werden. Dave Edwardson am Bass und Jason Roeder am Schlagzeug sorgten unentwegt technisch perfekt und in eiserner Rhythmushärte für den brodelnden Untergrund dieses schmerz- und machtvollen Emotionsrausches. Die dabei entstandene Dramatik war genial und geistig wie emotional ungemein fordernd. Die hinter die Band projizierten Bilderschleifen materialisierten intensiv dieses musikalische Monument, in das sich die mit allen Sinnen geforderten Gäste verlieren konnten.

Das ist Musik, die sich in keine Ecke schieben lässt, sie zieht aufgeschlossene Metaller und Hardcorer ebenso in ihren Bann wie Post Rocker, Indie-Fans und hartgesottene Psychedeliker. Das Konzert war ein schwermütiger, brachialer Trip, so intensiv, dass sich die erschöpfte Menge verschwitzt und ruhig aus dem UT schob, eine Zugabe war gar nicht nötig, denn die Klangvisionen von Neurosis wirken noch lange aufwühlend nach.

Neurosis

18. und 19. August 2008, UT Connewitz

Ein Kommentar anzeigen

  1. 30. August 2008

    Netter Artikel, nur noch mal zu den Fakten:

    1. zwar waren die Karten schnell dank Reservierungsfunktion weg, de facto kam man aber zumindest am ersten Tag problemlos rein. Da die Band zwei Tage spielte, hatte man bei ausreichender Dedikation gute CHancen auf Karten.

    2. Amüsant: wer am Vorabend des ersten Konzertes in einer bekannten Connewitzer Kneipe (welche u.a. sehr leckeren gebackenen Käse anbietet) ein Bier zu sich nahm, kam in den Genuss einer ziemlich großen Gruppe schwer tätowierter Herren, welche nicht aus Connewitz stammten, dem informierten Musikhörer freilich dennoch ziemlich bekannt vorkamen. Yeah!

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