Über das Verhältnis von repräsentativer und innovativer Musik

Die Wolfgang-Rihm-Uraufführung und die Erstaufführungen von Elliot Carter werden zum Großen Concert an unterschiedlichen Orten aufgeführt: Im Gewandhaus und in der Berliner Philharmonie

Vielleicht sollte man so unterschiedliche Orchester und ihre Maestros nicht vergleichen, auch die Anlässe der Konzerte sind verschieden: hier ein Großes Konzert des Gewandhausorchesters und dort ein Konzert im Rahmen der Berliner Festspiele. Und doch zieht man Parallelen und stellt Unterschiede fest. Das Konzert des Gewandhauses mit der Uraufführung von Wolfgang Rihm und dreimal Beethoven ist an zwei Abenden ausverkauft, aber das Konzert der Berliner Staatskapelle mit Werken von Elliot Carter in der weltberühmten Berliner Philharmonie von Hans Scharoun hätte noch einige hundert Zuhörer vertragen können. In der Summe bleibt der Eindruck zweier gänzlich verschiedener Herangehensweisen: Riccardo Chailly – ganz im Geiste des klassischen Maestros – ist angetreten, das Erbe der Klassik zu pflegen und zu repräsentieren, freilich ergänzt mit Werken heutiger Komponisten. Daniel Barenboim dagegen sucht den Diskurs, ja die Reibung mit dem Heutigen. Das Programm und die Künstler der Lindenoper sprechen da Bände und auch seine Konzerte suchen das Innovative, wie eben ein Programm mit viermal Elliot Carter.

2005 hat Riccardo Chailly mit der Uraufführung von Wolfgang Rihms Ernster Gesang für Orchester seine erste Gewandhaussaison eröffnet. Drei Jahre später nun wieder ein Konzert mit Wolfgang Rihm: die Uraufführung von Coll’Arco – Vierte Musik für Violine und Orchester. Das Gewandhausorchester zeigt sich damit up to date, denn selbst die überregionalen Feuilletons überschlagen sich seit Jahren damit, zu bestätigen, dass Wolfgang Rihm der Gefragteste unter den lebenden deutschen Komponisten ist. Das zweimal ausverkaufte Gewandhaus könnte zudem vermuten lassen, dass Feuilleton und Publikum hier mal eine Sprache sprechen, wären da nicht die weiteren Programmpunkte, dreimal Beethoven, zwei Ouvertüren und die 5. Sinfonie. Es wird nicht so richtig klar, weshalb nach der Pause Beethovens wohl bekannteste Sinfonie auf dem Programm steht, dramaturgische Zusammenhänge sind jedenfalls nicht zu erkennen.

Wolfgang Rihms neues Werk setzt seine in den 70ern begonnene Haltung, sich konsequent und ohne Berührungsängste mit der Musik der Vergangenheit zu beschäftigen, fort. Mit Linie, Gesang und Selbstvergessenheit bringt der Komponist das Stück auf eine kurze Formel. Das Soloinstrument setzt zu Beginn eine melodische Linie, eigentlich könnte man alles Folgende als ein virtuoses Ausschwingen des Orchesters bezeichnen. Fast zwanzig Minuten vergehen damit bis zum ersten Orchestertutti, jetzt beginnt ein gewaltiges Auf- und Abschwellen. Bis dahin entwickelt sich ein fast klassisches Hin und Her zwischen Soloinstrument und Orchester. Carolin Widmann überzeugt mit Substanz und Bestimmtheit, ausgezeichnet vorbereitet kann sie sich ganz der durch das Werk schimmernden leuchtenden Linie widmen. Sie erreicht damit eine Intensität und eine fast romantische Schönheit. Hier liegt wohl das Genialische der Rihmschen Klangschöpfungen: Gefühlte Musik, die sich um die Ismen der Neuen Musik nicht kümmert, aber auch keine Angst vor großen Gefühlen hat. Wie zufällig entsteht dabei wirklich Neues, wie heute die wunderbar dunklen Töne gegen Ende des Stückes, als sich die Violine im Orchesterklang aufzulösen scheint. Viel wirklicher Applaus und ein gerührter Wolfgang Rihm, der sich beim Weg auf das Podium noch schnell die Augen reibt.

Elliot Carter begeht im Dezember seinen 100. Geburtstag, Volker Hagedorn hat ihn aus diesem Anlass im Februar in der Wochenzeitung Die Zeit als den unamerikanischsten aller amerikanischen Komponisten bezeichnet. Amerikanisch in dem Sinne, dass er Anregungen von Ives, Nancarrow und deren Polyrhythmik erhält, unamerikanisch, da seine Werke trotz höchster Komplexität schließlich in eine verblüffende Klarheit münden. Man spürt viel Landschaft in seiner Musik, die Klarheit und Weite erinnert interessanterweise an einen anderen Amerikaner: Frank Lloyd Wright, den Baumeister der so genannten „Präriehäuser“, diese weiten, flachen Architekturen, welche auf eine verstörende Weise die amerikanischen Wüstenlandschaften sublimiert haben.

Das vielfarbige Programm beginnt mit Soundings, einem Konzert für Klavier und Orchester. Daniel Barenboim dirigiert und übernimmt auch selbst den Klavierpart. Er ist sichtlich angespannt, was verwundert, wenn man andere Konzerte mit ihm am Klavier erlebt hat, etwa die Klavierkonzerte von Beethoven im März dieses Jahres in Wien, wo man einen ausgelassen, fast übermütigen Daniel Barenboim bewundern konnte. Aber mit dem ersten Ton weicht die Anspannung, das Klavier eröffnet das musikalische Geschehen, im weiteren Verlauf eher zurückhaltend entwickeln sich dann im Orchester kammermusikalische Aktionen zu riesigen Massenszenen, introvertierte Bläserpassagen münden in bewegte Klangfelder. Ganz anders das zweite Stück des ersten Teiles: Of Rewaking für Mezzosopran und Orchester zeichnet den Text der drei zugrundeliegenden Gedichte von William Carlos Williams in der Interpunktion nach, die Orchesterfarben verstärken den Inhalt des Textes, der sich in freier lyrischer Form mit dem irdischem Sein auseinander setzt. Michelle de Young versinkt genüsslich in die perkussiven kontrastreichen Strukturen, die sehr exakten Schlagzeugaktionen werden vom ebenso messerscharfen Orchester gestützt. Michelle de Youngs Gesang ist bis zum Ende steigerungsfähig, sinnlich und kraftvoll stemmt sie sich gegen die zum Ende mächtigen Orchestertuttis. Dann das Hornkonzert von 2006, heute erstmals in Deutschland zu erleben. Ignazio García am Horn beginnt mit bezaubernden schwirrenden Passagen des so seltenen Soloinstrumentes. Tief unten begegnet das Orchester diesem überirdischen Beginn, jetzt agiert das Horn eher als Begleiter denn als Wegbereiter des Orchesterklanges und schiebt sich behutsam unter die dunkle Struktur. Im gesamten weiteren Verlauf setzt sich dieses Spiel zwischen Solist und Orchester kunstvoll fort. So der farbige Verlauf des ersten Teils in Berlin.

Der zweite Teil in Leipzig dann ganz im Zeichen der Repräsentation – Beethoven. Irgendwie interessant wäre es zu wissen, wie oft das doch sehr betagte Publikum die Fünfte schon gehört hat. Daniel Barenboim bleibt auch im zweiten Teil bei Carter: das etwa fünfsätzige Orchestertriptychon Symphonia: sum fluxae pretium spei basiert wie Of Rewaking auf einer Textvorlage, hier dem Gedicht Bulla des englischen Dichters Richard Crashaw. Wie ein staunender Beobachter von Naturschauspielen ist man dem Auf- und Abschwingen der Orchestertuttis ausgesetzt, später im zweiten Satz die Trompeten in kontemplativem Singen, bis sich das Orchester in eigenartigen rhythmischen Verschiebungen wieder in Erinnerung bringt. Kräftige Eruptionen des Orchesters beenden die deutsche Erstaufführung dieses sinfonischen Werkes von Elliot Carter. Hier wie dort ist das Publikum am Ende begeistert, in Leipzig wieder einmal bestätigt in längst Bekanntem, in Berlin in der Gewissheit etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben. So schwierig kann es sein, über das Verhältnis von repräsentativer und innovativer Musik zu urteilen.

GROSSES CONCERT
ELLIOTT CARTER ZUM 100. GEBURTSTAG

Ludwig van Beethoven (1770-1827): Ouvertüre zu Die Geschöpfe des Prometheus op. 43
Wolfgang Rihm (*1952): Coll’Arco – Vierte Musik für Violine und Orchester
(Uraufführung, Auftragswerk des Gewandhauses zu Leipzig und des Lucerne Festivals)
Ludwig van Beethoven: Ouvertüre zu der Oper Fidelio op. 72
Ludwig van Beethoven: 5. Sinfonie c-Moll op. 67
Gewandhausorchester
Violine: Carolin Widmann,
Leitung: Riccardo Chailly

12. September 2008, Philharmonie Berlin

Elliott Carter (*1908): Soundings für Klavier und Orchester (2005)
Of Rewaking für Mezzosopran und Orchester (2002)
Horn Concerto für Horn und Orchester (2006), DE
Symphonia: sum fluxae pretium spei (1993-96) DE
Partita (1993) – Adagio Tenebroso (1994) – Allegro Scorrevole (1996)
Staatskapelle Berlin
Mezzosopran: Michelle de Young
Horn: Ignacio Garcia
Leitung & Klavier: Daniel Barenboim

13. September 2008, Gewandhaus, Großer Saal

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