Klangrausch im Hangar

Messiaen und Stockhausen werden als visionärer Abschluss des Musikfest in Berlin gespielt

Wo andernorts Kultur oft nur noch als das Sorgenkind, als die immer um Geld quengelnde Göre wahrgenommen wird, stellt Berlin 2008 ein grandioses Musikfest auf die Beine und leistet mit dem Abschlussabend ein Klassikerlebnis mit Jahrhundertcharakter.

Fast zwei Stunden dauert die Aufführung von Des Canyons aux étoiles?, Olivier Messiaens monumentalster Orchesterkomposition: Zwölf Einzelsätze, vier Soloinstrumente und mehrere gleichwertig nebeneinander verwendete Tonordnungssysteme. Die Komposition entstand anlässlich eines Jubiläums im Auftrag des Bundesstaates Utah. Messiaen, dem die politische Erwartung ein Jubelstück zu liefern zuwider lief, verlegte sich inhaltlich ganz in die typisch amerikanische Landschaft und (natürlich) in die Vogelwelt. So findet sich beinahe alles, was sich zwischen den Canyons des Bundesstaates Utah und dem Himmel befindet, in seinem Stück. Wie in vielen anderen Kompositionen notierte er zuerst die Gesänge der Vogelwelt vor Ort. Dieses Material wurde dann instrumentiert und bildet das Rohmaterial der Komposition. Das Stück lebt sehr von repetiven Elementen, welche in Farbe und Tonalität so angelegt sind, dass der geübte Ornithologe die verschiedensten Drosselarten erkennen könnte. Das „Ensemble intercontemporain“ unter der Leitung von Susanna Mälkki meistert die komplexen Strukturen im Detail, es gelingt aber leider nicht die Vielzahl von unterschiedlichen Aktionen zu einem spannungsvollen Ganzen zu binden. Besonders in den Soli des Klaviers und des Horns fällt das Stück auseinander. An sehr dünnen Stellen bringt der Motorenlärm der aufgehenden Flugzeuge wieder etwas Spannung, verweist er doch auf den grandiosen Aufführungsort und ist zudem irgendwie auch passend zu Messiaens Himmel- und Sternenstück.

Wie Simon Rattle mit Olivier Messiaens Musik umgeht, kann man im zweiten Konzert des Abends erleben. Er liest das Stück Et exspecto resurrectionem mortuorum, was zum Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege entstanden ist, als konsistentes Ganzes, als eine weihevolle Klage. Sehr filmisch konzentriert er sich mit seinen ausgezeichneten Philharmonikern auf einen großen Bogen. Wo das renommierte „Ensemble intercontemporain“ modern und anonym wirkt, steht bei Simon Rattle nicht die sterile Erfüllung des Notentextes im Vordergrund. Mit knisternder Energie zwingt er das Orchester in einen stringent funktionierenden Organismus, die Eruptionen und Verwerfungen des riesigen Tam Tams erzielen dann so eine finstere und ungeheure Wirkung. Erbarmungslos steigern sich die Klänge, beim sirenenhaften Singen am Ende scheint die Luft zu vibrieren, die ersten Zuhörer halten sich ob der ungewohnt hohen Töne die Ohren zu.

Großartig bis hierhin und kaum vorstellbar, dass jetzt noch eine Steigerung möglich ist. Der Hangar 2 des Flughafens Tempelhof erweist sich als geeigneter und sehr stimmungsvoller Ort. Das Publikum scheint offener und neugieriger und alle Stühle im ausverkauften Saal bleiben auch bis zur letzten Minute besetzt.

Mit Gruppen für drei Orchester hat sich der 1957 noch nicht dreißigjährige Karlheinz Stockhausen sofort in die Champions League geschossen. Das Stück benötigt drei vollständige Orchester, in den Dimensionen eines Fußballfeldes sind deshalb neben der Hauptbühne zwei weitere Bühnen angeordnet, mit Daniel Harding und Michael Boder als Co-Dirigenten agiert Simon Rattle so über einen riesigen Klangapparat. Stockhausen entwirft mit ungeheurem Formwillen einen musikalischen Skyscraper. Geschoss auf Geschoss türmt er seinen bizarren Kosmos. Das faszinierende und unvergleichliche daran, dass man durch die Gleichzeitigkeit der drei Orchester die Möglichkeit hat, das Ganze in der Summe zu erfassen: Pizzicati von links, Violinenmelodie von rechts und vorn das Schlagzeug, im nächsten Moment hämmert das Schlagzeug rechts. Simon Rattle gelingt auch hier eine Interpretation, die über die reine Erfüllung der Partitur hinausgeht. Unerwartet farbig und rund klingt das Stück, ja fast romantisch im Bläsersatz.

Und dann noch eine Steigerung: Nach einer Pause leistet sich Rattle eine Wiederholung von Gruppen. Die Zuhörer sind jetzt allerdings anders im Saal verteilt, wohlweislich befinden sich auf den Karten zwei unterschiedliche Sitzplatzangaben: Eine für die erste und eine zweite Aufführung von Gruppen. Jeder Zuhörer wird diesen Perspektivwechsel anders erlebt haben. Eine sehr starke Wirkung ergab sich, wenn man einmal im unmittelbaren Einflussbereich eines der drei Orchester und beim zweiten Mal das Stück aus größerer Distanz erleben konnte. Im unmittelbaren Einflussbereich wurde man das Gefühl nicht los, dass die Partitur die ungeheuren klanglichen und räumlichen Möglichkeiten zu wenig auslotet, aus größerer Distanz aber konnte man erleben, wie sich der Kosmos des Karlheinz Stockhausen aufspannt, wie das Versprechen des Stückes, eine neuartige Orchestermusik und ein dynamisches Klangerlebnis zu schaffen, wirklich eingelöst wird. Wahrscheinlich ergibt sich dieses Hörerlebnis auch, wenn man mit dem Hubschrauber über einem Orchester kreisen würde, Stockhausen hat es möglich gemacht, dass das Orchester selbst um die Zuhörer kreist, ein Klangrausch, der tradierte Hörweisen nicht nur aufbricht, sondern vom Tisch fegt.

TEMPELHOF II & III

Olivier Messiaen (1908-1992): Des Canyons aux étoiles? (1970-74) für Klavier, Horn, Xylorimba, Glockenspiel und Orchester
1. Teil: I. Die Wüste – II. Die Stärlinge – III. Was in den Sternen geschrieben steht ? – IV. Der Weißbrauenrötel – V. Cedar Breaks und die Gabe der Furcht
2. Teil: VI. Interstellarer Ruf – VII. Bryce Canyon und orange-roten Felsen
3. Teil: VIII. Die Auferstandenen und der Gesang des Sterns Aldebaran – IX. Die Spottdrossel – X. Die Walddrossel – XI. Omao, Leiothrix, Elepaio, Shamadrossel – XII. Zion Park und die himmlische Stadt
Ensemble intercontemporain
Horn: Jens McManama
Klavier: Dimitri Vassilakis
Leitung: Susanna Mälkki

Olivier Messiaen (1908-1992): Et exspecto resurrectionem mortuorum (1964) für Holz-, Blechbläser und Schlagzeug
Karlheinz Stockhausen (1928-2007): Gruppen für drei Orchester (1955-57) (1. Aufführung)
Karlheinz Stockhausen: Gruppen für drei Orchester (2. Aufführung)
Berliner Philharmoniker
Leitung: Daniel Harding (Orchester Nr. 3 bei Gruppen) & Michael Boder (Orchester Nr. 1 bei Gruppen), Sir Simon Rattle

21. September 2008, Hangar 2 im Flughafen Tempelhof

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