„Und weil es da draußen viele Überdrüssige gibt, aber nur wenig Alternativen“

Im Interview erklärt Herausgeber Martin Büsser, was es mit dem publizistischen Projekt „testcard“ auf sich hat

Cover der testcard #5 von 1997

Unter den vielen Publikationen, welche das Schlagwort Pop für sich in Anspruch nehmen, sticht „testcard. Beiträge zur Popgeschichte“ unweigerlich heraus. Als mehr oder weniger reines Musikmagazin gestartet, liegt der Schwerpunkt der Publikation inzwischen in einer „avancierten Gegenwartskultur“, wie es testcard-Herausgeber Martin Büsser im „Leipzig Almanach“-Interview mit ihm auf den Punkt bringt.

Dieser sympathischen Selbstbeschreibung ist durchaus zuzustimmen. Undogmatisch, aber von einem andauernden, kritischen Begehren getragen, arbeitet testcard seit Jahren an den Schnittstellen von Theorie, Kunst, Pop und Politik. Was sich daraus ergibt, ist der Versuch produktiv in gegenwärtigen Formen kultureller Praxis zu intervenieren, ja, die Formen der Intervention selbst mit zu gestalten.

Dass Popkultur eine solche kritische, selbstreflektierte, kulturelle Praxis sein kann, scheint zwar zwischen poptümelnder Niedlichkeit und Indiedisco-Overkill halbwegs vergessen und unwichtig, doch realisiert testcard, entgegen diesen Trends Kritik als Möglichkeitssinn – ein Möglichkeitssinn, welcher aus riskierten Differenzen entsteht.

Da wäre einmal die Differenz kulturindustrieller Ödnis. testcard praktiziert ein Ausloten und Zusammenbringen von Grenzbereichen, von denen aus die Zentren verlassen und leer wirken. Dann wäre da die Differenz zum Diskurs der Apokalyptiker und Uninformierten. testcard braucht kein konservatives Räsonnement über den Verfall des Authentischen, sondern begleitet und reflektiert lieber andere Wege kultureller Praxis. Gleichzeitig opponiert testcard gegen den falschen Schein von Freiheit, arbeitet daran, dass die Fragen nicht zu einfach und die Antworten nicht zu dumm werden.

Nicht vergessen werden darf die Differenz der Kritik. testcard realisiert sie als Arbeit an einer anderen Popkultur, um es aus dem Gedächtnis mit Foucault zu sagen: als beständigen Versuch anders zu denken und zu werden als man ist.

Während sich der kulturelle Feuilleton und seine Kritik in schwierigen Zeiten auf längeres Überwintern einstellen und gesellschaftlich die Zeichen allzu oft auf kulturelle Bestandsicherung und/oder plumpen Konsens zu stehen scheinen, unternimmt testcard es somit zweimal im Jahr die Diktatur des angeblich Wirklichen zu brechen oder doch zumindest die Koordinaten zu verrücken.

Schließlich und endlich wäre deshalb noch die Differenz der Aufklärung anzuführen. Nennen wir es beim Namen: testcard betreibt immer noch oder schon wieder das, was oftmals komplett in Vergessenheit geraten scheint: lustvolle Aufklärung, Aufklärung als lustvolle Erfahrung.

Dass in einem solchen Kontext nicht jeder Artikel, nicht jede Rezension als gleichermaßen gelungen bezeichnet werden kann, liegt in der „Natur“ der Sache. So manches Mal rattern da kritische Diskursmühlen munter vor sich hin, ohne die eigenen Kategorien noch ebenso empathisch zu befragen, was dann vor allem die eh Überzeugten freuen dürfte. Hinzu kommt von Zeit zu Zeit das Umkippen von Anspruch in Hermetik oder Opazität. Manche potentielle LeserInnen werden es schwer haben einen Zugang zu finden. In Zeiten, in denen ein Studium für jede und jeden immer unwahrscheinlicher wird, ist hier zumindest die Frage nach den sozialen Konsequenzen dieser vereinzelt durchscheinenden Diskurspolitik zu stellen.

Da testcard nun aber dennoch ziemlich einzig dasteht, soll nun Martin Büsser, der bereits erwähnte testcard-Chefredakteur, zu Wort kommen. Und zwar bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Publikation. Here we go.

Vergangenheit

Michael Wehren, Leipzig-Almanach: testcard lautet nicht nur der Titel eines „This Heat“ Lieds, sondern auch Ihrer, jetzt schon seit 1995 zweimal jährlich erscheinenden, „Beiträge zur Popkultur“. Gleich die erste Ausgabe, datiert auf den September 1995, widmete sich dem Thema „Pop und Destruktion“. In ihr finden sich nicht nur zahlreiche Auseinandersetzungen mit radikalen musikalischen Entwürfen, z.B. (Post)Industrial und seinen Spielarten, sondern auch gleich einige Klarstellungen zum politischen Selbstverständnis der maßgebenden Akteure. Könnten Sie uns etwas über die politisch-ästhetischen Konstellationen erzählen, innerhalb derer sich die kritischen Interventionen von testcard damals verorteten und denen sie entsprangen?

Martin Büsser: Es ging erst einmal wieder darum, einer gewissen konfrontativen Ästhetik ein Forum zu geben. Mitte der Neunziger war ja die Zeit, als „Alternative“, also dieser ganze Pearl-Jam-Mist, das Wissen um und das Schreiben über tatsächliche musikalische Alternativen vollständig überlagert hat. Mit neu entstandenen Heften wie „Visions“ konnten wir uns ebenso wenig identifizieren wie mit der damals immer beliebiger gewordenen, um eigene Hipness-Codes kreisenden „Spex“. Eine solch konfrontative Kunst oder Musik haben wir immer auch als gesellschaftspolitisches Statement begriffen, mussten aber bereits in und mit der ersten Ausgabe feststellen, dass man dieses Selbstverständnis immer auch kritisch hinterfragen muss. Die Industrial-Bewegung hat zum Beispiel auch politische Erscheinungen ins Leben gerufen, die wir ablehnen. So hätten wir zum Beispiel den Boyd-Rice-Artikel in der ersten Nummer besser gar nicht drucken sollen, da der Autor dem sozialdarwinistischen Schätzer eher ein unkritisches Forum gegeben hat. Andererseits sind das auch Fehler, aus denen man lernen kann.Und wir haben gelernt, dass nicht jede Musik, die uns gefällt, notwendig politisch oder gesellschaftskritisch sein muss. Man kann oder sollte das von Musik/Kunst womöglich auch nur bedingt erwarten. So kam es aber, dass Musik als zentrales Thema immer stärker vom Hauptteil in den Rezensionsteil abgedrängt wurde. Wo man einfach schreiben kann: „Gute Platte“, ohne damit naiven Subversionsvorstellungen von Musik zu erliegen.

Wehren: Woher kamen die Inspirationen zum testcardkonzept? Gab es das überhaupt? Offenkundig ist von Anfang an eine gewisse Nähe zu den Cultural Studies, darüber hinausgehend wäre zu fragen: Waren Versuche wie das heute fast vergessene „Rock Session. Magazin der Populären Musik“ (auch bereits in Buchform) eine Anregung? Oder müsste man nach gänzlich anderen Inspirationen Ausschau halten?

Büsser: Rock Session“ war sicher ein Einfluss, aber auch der britische „Wire“. Wir wollten ähnliche Musiker wie der „Wire“ vorstellen, aber nicht ganz so unpolitisch, musikzentriert wie „Wire“ sein. Aber auch die ‚alte‘ „Spex“, die wir ja vermissten, also die „Spex“, die noch von klugen Leuten wie Diedrich Diederichsen und Jutta Koether bestimmt wurde, war eine Art Vorbild.

Wehren: Kann man rückblickend von zentralen Wendepunkten in der über zehnjährigen Geschichte von testcard sprechen?

Büsser: Der erste zentrale Wendepunkt kam zustande, als die inzwischen leider verstorbene Tine Plech in die Redaktion einstieg. Auf einer testcard-Lesung in Nürnberg hatte sie mit Recht kritisiert, dass testcard in einem Punkt wie alle anderen Musikzeitschriften in Deutschland sei: Männer schreiben für Männer und vorwiegend über Musik von Männern. Das hat sich durch ihre Mitarbeit entscheidend geändert, so dass das Verhältnis von Autorinnen und Autoren in etwa bei 50% liegt, ganz zu schweigen vom enormen Anteil an Künstlerinnen, die besprochen werden.
Ein weiterer Einschnitt, wenn auch nicht ganz so manifest, war vor zwei bis drei Jahren: Schrittweise erweiterte sich testcard zu einem kulturkritischen Magazin, wo nicht mehr nur Musik eine Rolle spielte, sondern auch allgemeine gesellschaftspolitische Fragen. Der Hauptteil der „Sex“-Nummer war erstaunlich frei von Musik-Themen, ähnlich wird es mit der kommenden testcard sein, die „Regress“ heißen wird und reaktionäre Tendenzen in unserer Gesellschaft untersucht.

Gegenwart

Wehren: testcard erscheint mir als eine der wenigen Veröffentlichungen, welche noch die Möglichkeit und Notwendigkeit eines wie auch immer prekären Austauschs von Theorie und Praxis behaupten. Gleichzeitig sind viele Ihrer Autoren, auch Sie, ja (noch immer) in „populäreren“ Veröffentlichungen zu Gast. Wie schätzen Sie den gegenwärtigen Stand der Musik/Kulturkritik und die Position von testcard im Bezug auf diesen ein? Für immer Indierock vs. ein weites Feld des Halb- oder Unbekannten?

Büsser: Ich möchte es mir an dieser Stelle einfach machen und zu dem Problem aus einem Artikel von mir zitieren, der in den nächsten Wochen in der „Jungle World“ erscheinen wird. In ihm geht es darum, wie die so genannte Poplinke immer mehr weggebrochen ist (in die Feuilletons, auf die Unis etc.) und was das für Folgen hatte: Es sind unterschiedliche Faktoren, die eine Beliebigkeit bedingen, dank der das „anything goes“ in jeglicher, nämlich ästhetischer wie weltanschaulicher Hinsicht, Einzug in den Popjournalismus und schließlich wohl auch in die Köpfe der Hörer gefunden hat. „Über Avantgarde kann man jedenfalls nicht mehr in Pop-Zeitschriften schreiben“, merkte Diedrich Diederichsen frustriert in seinem Buch „Musikzimmer“ an. Jegliche Musik ohne Lobby ist aus den Magazinen in die endlosen Weiten von myspace verbannt worden. Avantgarde-Bewusstsein kann sich jedoch nur ausbilden, wo Abgrenzungen und klare Positionierungen vorgenommen werden. Die totale Substanzlosigkeit, die den gegenwärtigen Pop von Maximo Park bis Arctic Monkeys auszeichnet, ist womöglich schon das musikalische Resultat des vergangenen, kritiklosen Kritiker-Jahrzehnts. Max Müller, dessen aktuelle CD noch ganz in einer alten poplinken Tradition steht, brachte es im Interview auf den Punkt: „Gibt es überhaupt noch schlechte Kritiken? Ich habe schon lange keine mehr gelesen. Alles ist genial. Sind nicht die Kritiker selbst schuld an der Langeweile in der Musik, weil sie die Scheiße nie Scheiße nennen? Über Grönemeyer haben sich immer alle lustig gemacht. Heute sagt die Kritik, dass er ein großer Poet mit großer Aussage sei, dabei ist es immer noch derselbe Mist … na ja, eigentlich noch schlimmer.“

Wehren: Da stellt sich die Frage nach dem praktischen Möglichkeitsraum, zugleich aber auch die Frage des Kritik-Verständnisses. testcard ist sicherlich schon eine konkrete Form der Antwort – dennoch: ist das alles, d.h. „die Poplinke“, „ersatzlos“ fort? Und wenn die Antwort „Ja“ lautet: wie würden Sie versuchsweise das Gefüge und sein Potential beschreiben, welche an ihre Stelle getreten ist? Anders formuliert: Für „wen“ schreiben Sie eigentlich?

Büsser: Natürlich kennt niemand alle konkreten Leser, aber durch das Verschwinden der Poplinken (von denen einzelne Reste natürlich weiterhin durch diverse Feuilletons und Redaktionen geistern, verschwunden sind sie wohl eher als Personalunion, die u.a. mit „Spex“ ein entsprechendes Forum hatte) hat sich ja auch eine Lücke aufgetan – testcard ist eines der wenigen Projekte, in dem durchweg kritische Kultur mit Kulturkritik verbunden wird. Wie stellen wir uns unsere LeserInnen vor? Nun, Menschen, die an der Musik von Animal Collective interessiert sind, sind in der Regel auch an unabhängigem Kino und kritischer Kunst sowie einem kritischen Nachdenken über unsere Gesellschaft interessiert … und so fügt sich das eine zum anderen. Wer also Informationen zur Kultur nicht aus jenen Informationsquellen haben will, die einen sowieso schon zementierten Kanon fortschreiben, wird wohl früher oder später bei testcard landen. Und weil es da draußen viele Überdrüssige gibt, aber nur wenig Alternativen, sehe ich für die Zukunft von testcard keineswegs schwarz.

Wehren: Projekte wie Wolf Eyes, Black Dice wurden, bevor sie eventuell bei großen Magazinen auftauchten, von testcard gefeatured und kritisch begleitet. Schreiben sie mit Musik anstatt über Musik?

Büsser: Es geht auf alle Fälle darum, Musik (wie alles andere auch) ernst zu nehmen und ihr nicht modisch zu erliegen. Darum konnten wir über gewisse Bands schreiben, bevor andere Zeitungen das aufgriffen, weil wir nicht danach schauen müssen, ob die Band ein Label im Rücken hat, das uns eine Anzeige finanzieren kann; aber auch nicht danach, ob diese Band einmal „relevant“ sein wird, denn der in den meisten Popmagazinen kursierende, aber nie offen ausgesprochene Relevanz-Begriff ist äußerst dubios. Anders gesagt: Für uns ist eine Musik „relevant“, sobald sie uns begeistert, ganz gleich, wie bekannt die Band zu diesem Zeitpunkt ist und ganz gleich, ob andere das in der Welt da draußen ähnlich sehen. Das führte zur frühen Entdeckung von Lightning Bolt, Japanther, Black Dice u.a., denen wir nie als Hypes begegnen mussten, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Hypes waren und es zum Teil bis heute noch nicht sind.

Zukunft

Wehren: Die letzten beiden Ausgaben hatten die Schwerpunktthemen „Extremismus“ und „Sex“ – was ist nun geplant und wo soll es hingehen?

Büsser: Wir planen immer nur eine Nummer voraus. Dann wird das nächste Thema auf einer Redaktionssitzung festgesetzt. Die # 18 wird sich, wie bereits gesagt, mit reaktionären Tendenzen in der Gesellschaft auseinandersetzen. Die reichen von Kameraüberwachung bis zum religiösen Backlash, von neuen alten Werten wie der Kleinfamilie und der Nation bis zu sozialer Konditionierung durch das sogenannte „Unterschichtsfernsehen“ … wieder einmal ein Fass ohne Boden. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch mal wieder eine Nummer planen werden, in der es hauptsächlich um Musik geht. Im Moment hat sich nur so viel an Kritikpunkten angesammelt, dass die Zeit mehr als reif ist für die „Regress“-Nummer.

Wehren: Sie selbst haben über Antifolk, Hardcore, Industrial, rechte Musikformen, Postrock und und und geschrieben – was interessiert Sie jetzt gerade musikalisch? Wo geht es für Sie hin?

Büsser: Was mich am wenigsten interessiert, ist zeitgenössische Indie-Musik. Ich höre viel sogenannte traditionelle Musik aus Afrika, Asien und Osteuropa, die französische CD-Reihe von „Ocora“ ist da sehr empfehlenswert. Brillant ist auch die CD Give Me Love – Baghdad, 1925 – 1929 auf dem britischen „Honest Jons“-Label, die alte Shellacks aus Bagdad versammelt hat. Trends und Bewegungen kann ich momentan keine ausmachen, es sind immer wieder einzelne Platten, die mich begeistern, zum Beispiel die neue CD von David Grubbs, die inzwischen fast wie Fremdkörper wirken.

Wehren: Letzte Frage: Es gab nie ein Manifest, würden Sie eines schreiben, wie würde es beginnen?

Büsser: Na ja, es gibt auf der testcard-Homepage zumindest eine Selbstdarstellung, mit der wir uns positionieren. Und, weil der Pop-Begriff, wie wir ihn verstehen, obsolet geworden ist, haben wir testcard # 14 scherzeshalber nicht mehr „Beiträge zur Popgeschichte“ genannt, sondern ihm einen neuen Untertitel gegeben, der schon an ein Manifest heranreicht: „Beiträge zu einer avancierten Gegenwartskultur, die zwar strukturell der Hochkultur zuzurechnen wäre, aber nicht im Gewand traditioneller Hochkultur daherkommt, sondern genealogisch an die Tradition der angloamerikanischen Popkultur seit Mitte der 1960er-Jahre beziehungsweise an die historischen Avantgarde- und Neoavantgarde-Bewegungen anknüpft, und die sich gleichzeitig weigert, sich der neokonservativen oder neofaschistischen Reaktion zu ergeben.“ Uff …

Wehren: Vielen Dank!

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