No Future

Der Leiter des Orphtheaters über das Aus in Berlin und den Auftritt bei der euro-scene Leipzig

„Die Bestimmung der Grenzwerte unserer Gesellschaft“

Mit Panoptikum der Träume veranstaltet das Berliner Orphtheater auf der euro-scene eine zügellose Revue um den Tod. Und steht selbst vor dem Aus. Denn der Senat lehnte die weitere Förderung ab. Der Leipzig-Almanach sprach mit dem Theaterleiter Matthias Horn.

Leipzig-Almanach: Wie schlimm steht es ums Orphtheater? Was bedeutet der Senatsentscheid für das Theater?Matthias Horn: Der Antrag des Theaters auf Basisförderung für die Jahre 2009/2010 ist vom Regierenden Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten nicht bewilligt worden. Dadurch ist eine weitere Ensemblearbeit des Orphtheaters nicht möglich. Zum 31. Dezember 2008 löst sich das Orphtheater-Ensemble auf.Leipzig-Almanach: Das Orphtheater ist eines der ältesten Theater der Berliner Freien Szene. 1990 gegründet, haben Sie seitdem versucht, sich weitestgehend den Marktmechanismen zu entziehen. Wie funktioniert dies und funktioniert dies noch? Welche Veränderungen nahmen Sie in dieser Hinsicht über die Jahre wahr?Horn: Das autarke Arbeiten war und ist immer noch eine der Prämissen unseres Theaterverständnisses. Dazu gehört auch, dass manche eingeschlagene Wege sich als Irrtum herausstellen, Projekte auch scheitern können. Für uns ist das ein natürlicher Prozess, für andere bedeutet es Stagnation. Bis 2002 war ein Arbeiten außerhalb dieser Marktmechanismen möglich, aber seitdem zeichnet sich der sogenannte „Markt“ in Berlin immer mehr durch Schnelllebigkeit, Oberflächlichkeit aus, alles ist rauschhaft, die Förderung kultureller freier Einrichtungen geht mehr in Richtung Produktionsstätten (HAU, Sophiensaele, Radialsystem), kontinuierliche Ensembletätigkeit hält der Regierende Bürgermeister von Berlin mit seiner Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten immer weniger für förderungswürdig. Insofern stellen wir Veränderungen fest, die wir nicht mittragen können, dieser Art der Durchlauferhitzung wollen wir uns nicht unterordnen, das führt eben dazu, dass wir nicht „funktionieren“…

Leipzig-Almanach: (Wie) lässt sich Ihr orphisches Theater in künstlerischer Hinsicht auf einen Punkt bringen?

Horn: Orphtheater geht von einem alltäglich praktizierten Theater- und Lebensmodell aus. Unser Ausgangspunkt ist dabei jene ungreifbare, gespenstische, harmonische Normalität, die als Maßstab aller Dinge gilt, der alle nacheifern und die keiner wirklich versteht, geschweige denn erreicht. Mittelpunkt unserer Theaterarbeit ist die menschliche Kreatur mit all ihren Schattierungen. Ziel unserer theatralen Nachforschungen ist dabei nicht die Erneuerung alter Ideale, sondern die Bestimmung der Grenzwerte unserer Gesellschaft, über die hinaus angeblich nicht gedacht und gehandelt werden darf.Leipzig-Almanach: Das Stück Panoptikum der Träume, mit dem Sie auf der euro-scene zu sehen sein werden, basiert auf Heiner Müllers Todesanzeige. Das klingt mehr als nach einem Fingerzeig. Ist dies der explizite und öffentlich machende Umgang mit dem eigenen Schicksal?

Horn: NEIN. Auch andere Inszenierungen unseres Theaters hatten das Scheitern als finales Thema zum Inhalt: Die Maske des roten Todes 1994, Baal 2001, niemals stand dahinter der Fingerzeig auf ein eigenes Schicksal. Eigentlich ist es eher der verblüffende Moment der Aktualität dieser Texte als Beschreibung eines Zustandes dieser heutigen Gesellschaft, was uns interessiert. Das möchten wir zeigen und nicht eine Reflexion zur Förderpolitik des Landes Berlin.Leipzig-Almanach: Die dem Stück zugrunde liegenden Texte sind nicht gerade gekennzeichnet von Lebensfreude, sind düster, bitter, von Galgenhumor. Was reizt Sie an dem Stoff, macht ihn für eine Orph-Aufführung besonders?

Horn: Es ist vor allem die Sprache Müllers und deren Konfrontation mit denen uns eigenen Mitteln, die Lust, die Gewalt, der Spaß, die Liebe im Umgang mit dieser Sprache, das reizt uns an dem Stoff und macht ihn für uns besonders.Leipzig-Almanach: Wie inszenieren Sie diese „Nekrologe“? Was erwartet das Publikum?

Horn: Inszeniert ist dieser Abgesang als Revue mit musikalischen Einwürfen von Jazz bis Punk, es gibt Puppenspiel, Chorpassagen, eine Punkband, Parteiversammlung, Parallelszenerien, Kerzenschein (elektrisch…) und eine ganz ungewöhnliche Bühnensituation im Spiegelzelt der Kongresshalle.

Leipzig-Almanach: Von der Senatskulturverwaltung mit Missachtung bestraft, wird das Orphtheater zu einem nicht unwichtigen Theaterfestival eingeladen. Wie geht man mit so einer Diskrepanz um? Was läuft falsch im Staate D?

Horn: Gute Frage… Wir sind stolz, eingeladen worden zu sein. Wir zeigen uns in Leipzig mit einem Projekt, das im Gegensatz zum Veranstalter euro-scene kein Vertreter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin mit seiner Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten gesehen hat. In Leipzig kann man das „…mittelmäßige und frustrierende Theater, dazu die immergleiche, stupide kollektiv-synchrone Bewegungsregie…“ sehen (wörtliches Zitat eines Senatskanzleimitarbeiters). Letztendlich entscheidet ja der Zuschauer, allerdings nicht über Geld, und das ist schade… Ein großes Problem ist die Festlegung von Förderkriterien und auch die Verteilungsmechanismen der Gelder für Kultur generell. Der gesamten Kulturetat der Stadt für Theater macht 194.000.000,- ? aus. Die Freie Szene erhält 4.200.000,- ?, das sind 2,16 Prozent, das steht in keinem Verhältnis zu dem Angebot und der Leistung, die der Freie Theaterbereich erbringt. Und gerade die Freie Szene Berlins ist es ja, mit der sich diese Stadt permanent schmückt, aber unterstützen, gezielt fördern… arm aber sexy. „Sei einzigartig, sei vielfältig, sei Berlin“ (der neue Slogan der Hauptstadt) – unser Theater gehört offensichtlich nicht dazu. Das Orphtheater hat einen Förderetat von 60.000,- ? im Jahr, es betreibt eine eigene Spielstätte damit, macht zwei Eigenproduktionen und realisiert cirka 100 Vorstellungen im Jahr für cirka 3.800 Zuschauer. Dieser Etat wird in Berlin an manchen staatlichen Theatern für ein Bühnenbild verbraucht, was läuft da falsch… Vielleicht hat ja Leipzig an uns Interesse?

Orphtheater: Panoptikum der Träume

Stück nach Todesanzeige und andere Texte von Heiner Müller
Im Rahmen der euro-scene Leipzig
www.orphtheater.de
www.euro-scene.de

Spieltage: 7. & 8. November 2008, Spiegelpalast in der Kongresshalle

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