Reduktionistisches Kammerspiel

Zwei Frauen und ein Mann – Konwitschnys Grazer Aida als reduktionistisches Kammerspiel an der Oper Leipzig

Die Erfolgsgeschichte von Peter Konwitschnys Grazer Aida beginnt mit Tomatenwürfen. Als die Inszenierung in der neuen Sicht des Regisseurs 1994 zum ersten Mal in dieser Stadt über die Bühne lief, besann sich eine Zuschauerin auf die alte Tradition, mit „Paradeisern“ nach dem Verursacher zu zielen. Wer hier betroffen war und wer wen getroffen hat, bleibt doppeldeutig. Dem Grazer Theater jedenfalls brachte der Verdi-Zyklus den Ehrentitel „Oper des Jahres 2001“ ein.

Die Leipziger werfen vierzehn Jahre später bei der Premiere der Neueinstudierung des Grazer Modells an der Oper am 1. November 2008 nur einige Buh-Rufe in Richtung Bühne, die dem neuen Chefregisseur des Hauses, der ganz anderes gewöhnt ist, kaum Kopfzerbrechen bereiten werden. Die Begeisterung überwiegt. Das Publikum ist klug genug um zu begreifen, was für einen Gewinn es an Konwitschny haben kann. Und wer sich allein nur an seine Leipziger Boh?me von 1991 besinnt, die bis vor einiger Zeit noch als Kleinod im Repertoire zu sehen war, weiß, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen und vor allem hinzuhören. Wer bereit ist, sich unvoreingenommen auf die Gedankenwelt Konwitschnys einzulassen, wird gefangen sein von der durchdachten Tiefe seiner Arbeit und manche Provokation als Denkanstoß und Gegenstand der Reflexion betrachten, anstatt sie als Bilderstürmerei und Werkschändung abzutun. Diese Denkprozesse brauchen ihre Zeit. Auch die Oper Leipzig wird diese Zeit benötigen. Doch dass überzeugen nicht immer unfruchtbar sein muss, beweisen selbst die Grazer Empörten. Denn jene Tomatenwerferin, so geht die Anekdote, soll Konwitschny später offenbar demonstrativ überzeugt eigens eine Tomate überreicht haben – ein einprägsames Bild, das für all jene Leipziger stehen kann, die nach der Aida-Premiere am Sonnabend tief enttäuscht geseufzt haben: „Wann fahren wir wieder nach Mailand?“

Nach Mailand zu fahren – dazu gibt es in Leipzig wirklich keinen Grund. Denn das Verdienst von Konwitschnys Sicht auf Aida ist es gerade, dass er den mit opulentem Illustrationstheater versperrten Blick auf das Wesentliche wieder freiräumt, um nichts weniger als der Musik neuen Raum zu verschaffen und ihr zu ihrem verdienten und angestammten Recht zu verhelfen. Wenn andernorts die gestapelte Kulisse, der große Aufwand, lebende Elefanten gar, pompöse Massenaufmärsche, ausladende Gesten und Posen, wo das inszenierte Event Aida bei Aufführungen vor ausverkauften Stadien oder in beleuchteten ägyptischen Tempelanlagen für Massenbegeisterung sorgen, braucht Konwitschny nichts mehr als ein Sofa, das sprichwörtliche rote Tuch, das verheißungs- und unheilvoll über dieses Sofa gebreitet ist sowie einen geschlossenen weißen Raum mit einer geheimnisvollen, das Interesse des Zuschauers magisch auf sich ziehenden Seitentür, um in die Tiefe zu gehen. Das ist ein starkes Stück. Denn Konwitschny denkt in den Formen des Gesamtkunstwerkes minimalistisch ganzheitlich – er experimentiert dialektisch mit den Ebenen des Raumes, mit Innen und Außen, mit Schwarz und Weiß, mit Macht und Liebe, mit Politik und Religion, mit Sichtbarem und Unsichtbaren, mit Herz und Geist, mit Öffentlichem und Privaten, mit Ängsten und Hoffnungen, Gefangenschaft und Freiheit, Krieg und Frieden.

Die diesen Prozess vorausgehende sokratische Methode bedeutet vor allem für die Sänger, dass sie weder als Statisten missachtet, noch als Marionetten der Eitelkeit des Regisseurs missbraucht werden. Selbst wenn sie wie an diesem Abend als Clowns aufmarschieren, als surreale Harlekine der Macht, die als schräge Herrscherfamilie Könige, Oberpriester und Königskinder karnevaleske und burleske Komik präsentieren, während die Aida-Trompeten zur Fanfare und zum Triumphmarsch aufwarten. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken, denn das Unsichtbare – die Gefangenen – marschiert hier vor dem inneren Auge des Zuschauers vorüber und lässt einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen, wenn die sektlustige kleine Machtmeute mit Konfetti über die Bühne rauscht. Die Demonstration des Sieges im Krieg gerät so zur skurrilen Farce. Präzision der Bewegungen, Professionalität der Choreographie des Tragikomischen machen Verfremdungseffekte wie dieser es ist zum bedenkenswerten und einprägsamen Erlebnis, auch wenn mancher Zuschauer ähnlich wie bei der Darstellung der rituellen Vergewaltigung Aidas irritiert ist und nicht weiß, was er davon halten soll.

Peter Konwitschny inszeniert Aida als ein reduktionistisches Kammerspiel einer Dreiecksbeziehung zwischen einem Mann (Hauptmann Radames) und zwei Frauen (die ägyptische Königstochter Amneris und die äthiopische Königstochter Aida), die diesen einen Mann lieben. Die Handlung geschieht in einem (ver-)wandlungsfähigen Raum (Bühne: Jörg Kossdorff), der durch geschicktes Lichtdesign bald Ort übersinnlich-mythischen Kultus, bald klaustrophobe Projektionsfläche beklemmender Ängste ist. Die Psychologie der Figurenentwicklung zeigt Konwitschny in diesem einen Ort mit minimalistischem Aufwand folgerichtig wie eine Durchführung in der klassischen Sonatenhauptsatzform. Die buchstäblich von außen auf diesen geschlossenen Innen-Raum einwirkenden Reize des Krieges und der Macht bewirken, weil sie mit rhythmischer Präzision analog der Partitur inszeniert sind, in den Figuren den programmierten Bruch, das Scheitern von Liebe und Vertrauen. Untrennbar ist das Private mit dem Öffentlichen in dieser Oper verbunden. Aidas Vater, hinter dem unheimlichen Sofa verborgen und düster mit dem rotem Tuch als Königsmantel drohend, zwingt seine Tochter, beim vertraulichen Schäferstündchen mit dem geliebten Feind, auf dem die gemeinsamen Fluchtpläne geschmiedet werden, das entscheidende militärische Geheimnis zu offenbaren. Der König spielt seine Liebe zu seiner Tochter aus, um Aida zu zwingen, zur Verräterin an ihrem Geliebten und damit für einen allzu hohen Preis zur vermeintlichen Retterin ihres Vaterlandes zu werden. Doch Konwitschnys große Idee besteht vor allem darin, die heimliche Heldin der Oper, Amneris, als psychologisch interessanteste Hauptfigur wiederzuentdecken. Sie ist in seiner Lesart die wesentliche Kraft, an der sich die Entwicklungen der Oper vorantreiben lassen.

Diese Herangehensweise ist im Sinne dieser Gesamtschau auf das Ganze in erster Linie musikdramaturgisch durchdacht. Überzeugend können die sängerischen Leistungen vor allem deshalb, weil die Ausführenden trotz minimalistischer Bewegungen zugleich auch subtile Darsteller des verborgenen Sinnes sind, indem sie die Aussagen der Musik adäquat mit Herz und Mund und Tat und Leben nachvollziehbar werden lassen. Dieses Konzept des Doppelsinnigen gelingt besonders eindrucksvoll bei Amneris – wunderbar ausgespielt von Natascha Petrinsky, die an diesem Abend die psychologisch und darstellungstechnisch größte Entwicklung von der hasserfüllt und eifersüchtig Liebenden zum großmütig verzichtenden und verzeihenden, Frieden fordernden Todesengel durcharbeitet und dafür zu Recht den größten Jubel des Publikums für sich verbuchen kann. Sylvie Valayre mit ihrem warmen, geschmeidigen, klaren Ton, hat die schwere Partie der Aida tapfer, überzeugend, souverän und sicher ausgespielt durchgestanden. Hauptmann Radames, gesungen von Carlo Ventre, lässt vermissen, dass er aus Ägypten kommt – man hört gleich, dass er ein Italiener ist. Doch bleibt das Bild, wie er blutüberströmt in Uniform mit dem zerfetzten Plüschelefanten auf die Bühne tritt, fest im Gedächtnis haften. Solide und treffsicher intoniert James Moellenhoff als König der Ägypter ebenso wie der dämonisch-diabolische Oberpriester Ramfis, gegeben von Danilo Rigosa. Vielbejubelt für seine kräftige, sonore stimmliche und ausdrucksstarke Gestaltung wird Paolo Gavanelli als äthiopischer König Amonasro. Sie alle begegnen den Betrachtern in schlichten, der Gegenwart angepassten Kostümen von Michaela Mayer-Michnay, die zwischen Militäruniform, Abendkleid und Alltagskleidung sinnvoll oszillieren. Brillant und ausgezeichnet ist auch der Leipziger Opernchor, der Verdis Musik mit fast sakraler Feierlichkeit zelebriert. Alle Fäden laufen sicher zusammen bei Axel Kober und dem Gewandhausorchester, das feinnervig die Nuancen der Partitur aufgreift und auf hohem Niveau die glanzvollen Facetten dieser Schicksalsmusik herausarbeitet. Von der kleinen hingehauchten, anmutsvollen Melodie bis zum Ausbruch der Urgewalten des Fatums kann so Verdis akustischer Kosmos menschlicher Leidenschaften entstehen. Doch waren die feinen leisen Obertöne, die Vielfalt der Facetten unter Chailly noch um eine entscheidende Spur reiner, genauer, perfekter.

Die Inszenierung jedoch gibt dem Betrachter in ihrer wunderbar klaren Struktur viele offene Fragen, Denkanstöße, Diskussionsanregungen mit auf den Weg. Schön, dass die Oper in einem breiten Spektrum ein Rahmenprogramm bietet – von der Stückeinführung, Lesung und Buchvorstellung bis hin zur Publikumsdiskussion -, in dem diese Gedanken öffentlich wiederaufgegriffen und weitergedacht werden können. Das Haus ist sichtlich darum bemüht, wieder zu einem Forum aktueller künstlerischer Diskussion in Leipzig zu werden. Und dass diese Aida mit uns Leipzigern unmittelbar etwas zu tun hat, verpackt Konwitschny in seiner Neueinstudierung in das eindrucksvolle Bild eines aufgebrochenen Raumes, in dem als Schatten das bei Verdi eingemauerte Liebespaar musikalisch zu neuen Ufern aufbricht – vor der lichtgebenden Kulisse des Leipziger Hauptbahnhofes als Videoprojektion. Viele offene Fragen, viele Ideen zum Weiterdenken entstehen auf diese Weise: Wer sind hier die Gefangenen? Wer hat den Mut, die Wirklichkeit neu zu erfinden?

Giuseppe Verdi: Aida

Oper in vier Akten
Musikalische Leitung: Axel Kober
Inszenierung: Peter Konwitschny
Bühne: Jörg Kossdorff
Kostüme: Michaela Mayer-Michnay
Mit: James Moellenhoff, Natascha Petrinsky, Sylvie Valayre, Carl Ventre, Danilo Rigosa, Paolo Gavanelli u.a.
Chor der Oper Leipzig
Gewandhausorchester

Oper Leipzig, 2008


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  1. Nachdem ich die Leipziger Aida über mich hatte ergehen lassen, brauchte ich etwa zwei Jahre, um überhaupt mal wieder den Mut für einen Opernbesuch aufzubringen. Aber gewiss nicht in Leipzig!

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